Veröffentlicht: 14.04.09
Darwin-Dossier

Das Leben, das Darwin entging

Darwin war ein genialer Beobachter und beschrieb alles, was er mit dem blossen Auge wahrnehmen konnte. Die Mikroorganismen, die am Anfang der Evolution stehen, blieben ihm jedoch verborgen. Mit seiner Abhandlung über Riffe war er ihnen ungeahnt nahe gekommen.

Simone Ulmer
Querschnitt durch einen Stromatolith. Die grünliche obere Lage ist vor allem von Cyanobakterien besiedelt, die rötlichen unteren Lagen von Purpurbakterien. Die weissgrauen Lamina und Punkte enthalten Karbonat. (Bild: ETH Zürich)
Querschnitt durch einen Stromatolith. Die grünliche obere Lage ist vor allem von Cyanobakterien besiedelt, die rötlichen unteren Lagen von Purpurbakterien. Die weissgrauen Lamina und Punkte enthalten Karbonat. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Ein modernes Labor mit ungewöhnlichen Aquarien: Sie sind oben offen, haben eine grössere Fläche als herkömmliche und sind dafür etwas niedriger. Darin schwimmen keine Fische, sondern im glasklaren Wasser liegen Steine, sogenannte Stromatolithen. Die Steine sind mit einer etwa ein Zentimeter dicken dunkelgrünen gelatineartigen Masse überzogen. Die Aquarien stehen im Geomikrobiologie-Labor des Departements für Erdwissenschaften (D-ERDW) der ETH Zürich. Es ist eines der wenigen Labors, dem es bisher gelang, lebende Stromatolithen zu «züchten».

Zur 150 Jahr-Feier der ETH Zürich scheuten Crisogono Vasconcelos, Betreuer des Labors, und sein Kollege Rolf Warthmann keine Mühe, um die «lebenden Steine» als Sensation von Brasilien nach Zürich zu bringen. Was als kleines Abenteuer begann, ist heute zu einem Langzeitforschungsprojekt geworden.

Minimales Wachstum

Die Stromatolithen beherbergen Organismen, die vermutlich als erste den Planeten besiedelten. Die gallertartige Masse besteht aus Bakterien. Zuoberst leben Cyanobacteria (auch Blaualgen genannt). In den sauerstofffreien unteren Bereichen siedeln etwa Methan und Sulfat-verzehrende Bakterien, die zusammen in Symbiose leben. Sie ernähren sich durch Photosynthese und Methan- oder Sulfatreduktion. Sozusagen als Nebenprodukt ihres Stoffwechsels scheiden sie Karbonate aus. Während sich an der Oberfläche laufend neues organisches Material bildet, sterben die unteren Lagen der Mikroben-Matte allmählich ab. Zurück bleiben dünne Karbonat-Schichten. Stromatolithen wachsen deshalb sehr langsam: in dreissig Jahren nur ungefähr einen Zentimeter.

Ökologische Nischen als Schutz vor Fressfeinden

Stromatolithen sind quasi lebende Fossilien und heute nur an speziellen Orten, wie dem Hamelin Pool der Shark Bay in Westaustralien, zu finden. Die «lebenden Steine» im Labor der Erdwissenschaftler stammen aus der Lagoa Vermehla in Brasilien. Dort ist der Salzgehalt des Lagunenwassers zwei bis drei Mal höher als im normalen Meerwasser. Die Stromatolithen haben sich heutzutage in anscheinend lebensfeindliche ökologische Nischen zurückgezogen, in denen sie keine natürlichen Feinde zu fürchten haben. Fische, Krebse oder Schnecken würden sie im normalen Ozean abweiden.

Fressfeinde, wie etwa die Trilobiten, die im Erdaltertum, dem sogenannten Paläozoikum, zu den ersten Gliederfüssler gehörten, sind vermutlich die Ursache dafür, dass die Stromatolithen in derartige ökologische Nischen verdrängt wurden. In der Zeit des Präkambriums, vor mehr als 540 Millionen Jahren, bildeten Stromatolithen ganze Riffe und die ersten Ökosysteme. Sie waren der Ursprung der Evolution. In der Publikation Darwins «Über den Bau und die Verbreitung der Corallen-Riffe» von 1842, in der er deren Arten und Verbreitung beschreibt und Theorien zu ihrer Entwicklung entwirft, war er dem Ursprung des Lebens indirekt sehr nahe gekommen. Denn vor Milliarden von Jahren beherbergten die Riff bildenden Stromatolithen ausschliesslich Mikroorganismen, die als erste Lebensformen unseres Planeten gelten. Die makroskopisch unsichtbaren Fossilien und die zur damaligen Zeit noch unbekannte sogenannte Ediacara-Fauna führten zu «Darwins Dilemma», warum auf der Erde in Gesteinen, die jünger als 500 Millionen Jahren sind, plötzlich Fossilien zu finden sind.

Wiege der Evolution

In Westaustralien gibt es in rund 3,5 Milliarden Jahre altem Gestein, im sogenannten Apex Chert, grosse fossile Stromatolithen-Riffe. «Über mehrere Dutzend Meter kann man an denen entlang laufen», schwärmt Judith McKenzie, emeritierte Professorin für Sedimentologie der ETH Zürich, die mit Crisogono Vasconcelos das Stromatolithen-Labor aufgebaut hat. Lange Zeit galt der Apex Chert als Wiege der Evolution. Denn 1987 beschrieb der Paläontologe William Schopf von der University of California, Los Angeles, im Apex Chert fossile Mikroorganismen. Er vermutete sogar, dass es sich um Cyanobacteria handeln könnte, die mit 3,465 Milliarden Jahren die ältesten Lebensspuren gewesen wären. Der Paläontologe Martin Brasier von der University of Oxford widerlegte im Frühjahr 2002 Schopfs Studie und bezeichnete die vermeintlichen Cyanobacteria als Artefakte. Ähnliche Studien zu anderen Funden folgten. Dies eröffnete eine neue Diskussion über den Beginn der Evolution. Um fossile Lebensspuren sicher zu identifizieren, galten von nun an verschärftere Kriterien – allen voran der Nachweis von Biomarkern.

Seither sind die Fachleute vorsichtig und skeptisch bei Neuentdeckungen. Das wurde einmal mehr an einer Fachtagung im September 2005 deutlich, als sich Koryphäen trafen, um die Frage zu klären, wann und wie Mikroben die Welt zu verändern begannen. Auch während dieses intensiven Austausches konnten sich die Experten nicht einigen, welche Fossil-Funde gesichert und welche die ältesten Lebenspuren sind. Oder darüber, wann die ersten Sauerstoffbildner auf der Bühne der Evolution erschienen, und ob es zuvor überhaupt Leben auf unserem Planeten gab.

Damit kamen auch die Studien über die Stromatolithen, die älter als etwa 3 Milliarden Jahre sind, unter Beschuss. Es wurde diskutiert, dass ihre pilzartigen, konischen Gebilde, sich auf der jungen Erde entweder durch andersartige und heute unbekannte Organismen oder rein chemisch gebildet haben. Wissenschaftler halten entgegen, dass bis anhin derartige Bauwerke, die sich chemisch gebildet haben, in der Natur nicht beobachtet werden konnten.

Über Analogien verstehen lernen

Um bestimmte Strukturen als Spuren frühen Lebens zu deuten, vergleichen Judith McKenzie und Crisogono Vasconcelos diese mit rezenten analogen Systemen. Beispielsweise indem sie die Stromatolithen unterschiedlichen Bedingungen aussetzen: Sie variieren den Salzgehalt, die Wärme, die Lichteinstrahlung oder den Sauerstoffgehalt. In einem Glaskasten des Labors können die Wissenschaftler ausserdem Bedingungen wie auf der frühen Erde simulieren. «Damit ist es vielleicht möglich, neue Stufen der Evolution zu finden», sagt Vasconcelos.

 
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