Veröffentlicht: 25.09.09
ETH Studio Basel

Studenten erforschen Siedlungsdynamik am Nil

In der Schweiz ist illegales Bauen eine Todsünde; in Ägypten ist es vielerorts der Normalzustand. Architekturstudenten der ETH Zürich haben sich eingehend mit der Region Assiut am Nil beschäftigt und kommen zum Schluss: Würde die Regierung den baulichen Wildwuchs nicht tolerieren, würde das soziale System wahrscheinlich instabil.

Samuel Schläfli
Landwirtschaftliche Flächen werden in Assiut illegal verbaut. Dies wird von der Regierung in Kairo als natürliches Ventil für das Bevölkerungswachstum geduldet, wie ETH-Studenten vor Ort beobachteten. (Bild: ETH Studio Basel)
Landwirtschaftliche Flächen werden in Assiut illegal verbaut. Dies wird von der Regierung in Kairo als natürliches Ventil für das Bevölkerungswachstum geduldet, wie ETH-Studenten vor Ort beobachteten. (Bild: ETH Studio Basel) (Grossbild)

Vor Christian Mueller Inderbitzin, Assistent am ETH Studio Basel, liegt ein über 700-seitiges Buch. Es zeigt Fotografien von Wüstenlandschaften, chaotischen Strassenszenen, kargen Äckern, unfertigen Backsteinbauten und von der Sonne gegerbte Gesichter. Dazu gesellen sich Grafiken, hier und da ein kleiner Textabschnitt und immer wieder Raumpläne – von kleinräumigen Ansichten einzelner Dörfer bis hin zu Übersichten einer ganzen Stadtregion. Innerhalb nur eines Semesters ist dieses Werk, so dick wie eine Bibel, entstanden. «Natürlich investierten die Studenten manches freie Wochenende und viele Feierabende für dieses Projekt, doch das ist bei uns eigentlich normal», so Mueller Inderbitzin.

Zwei Tage pro Woche beschäftigten sich 21 Architekturstudenten vom fünften bis zum achten Semester an der Professur von Roger Diener und Marcel Meili mit der ägyptischen Region Assiut. In den vergangenen Jahren entstanden während des Semesters am ETH Studio Basel städtebauliche «Porträts» von Metropolen wie Hong Kong, Casablanca, Belgrad und Havanna. Im vergangenen Sommersemester stand nicht eine einzelne Stadt im Zentrum der Forschungsarbeit, sondern ein urbanes Territorium, das über die eigentliche Stadt hinausreicht und auch Aspekte der Landschaft mit einschliesst. Die beiden Professoren entschieden sich gemeinsam mit den Assistenten für das Territorium rund um die ägyptische Stadt Assiut. Diese ist 375 Kilometer südlich von Kairo am westlichen Nilufer gelegen und hat rund 400.000 Einwohner. Mueller Inderbitzin erklärt den Grund für die Wahl: «Das Leben entlang dem Nil ist auf einen sehr schmalen Streifen von 25 bis 30 Kilometer beschränkt. Dieser wird seit Jahrtausenden bewohnt und kultiviert. Obwohl nur fünf Prozent des Territoriums Ägyptens, lebt hier praktisch die gesamte Bevölkerung. Infolge der Bevölkerungsexplosion, ist dieses Territorium heute einem enormen Druck ausgesetzt und eines der am dichtest besiedelten Gebiete der Welt. Das schienen uns interessante Rahmenbedingungen für eine Forschungsarbeit».

Kollegen von der lokalen Uni als Dolmetscher und Türöffner

Nach zweiwöchiger Recherche und Vorlesungen von Orientkennern, wie dem langjährigen NZZ-Korespondent für den Nahen Osten, Arnold Hottinger, flogen die Studenten zusammen mit ihren Assistenten nach Assiut. Dort wurden Sie von Kollegen und Kolleginnen des Architekturinstituts der lokalen Universität empfangen und auf dem Campus beherbergt. Die Gastgeber stellten sich als Dolmetscher zur Verfügung und öffneten den Gästen so manche Türe zu lokalen Behörden und wertvollen Kontaktpersonen. In Zweierteams gingen die ETH-Studenten während zwei Wochen zu einem spezifischen Thema auf Feldforschung. Sie beschäftigen sich neben klassischen städteplanerischen und architektonischen Fragen auch mit Themen wie Landwirtschaft, Wasserversorgung oder der Bedeutung des Nils. All dies fand in einem zuvor definierten Ausschnitt von circa 30 mal 10 Quadratkilometern statt, der unterschiedlichste Zonen umfasste, darunter Altstadt, Neustadt, Landwirtschaftsfläche, den Nil und die Wüste. «Da der bewohnte Nilstreifen bezüglich der Siedlungsstruktur relativ linear und indifferent ist, gingen wir davon aus, dass wir durch die Beobachtung unseres Ausschnitts Phänomene beschreiben können, die in weiten Teilen des Niltals vorkommen», erläutert Mueller Inderbitzin das Vorgehen.

Die Beobachtungen angehenden Architekten zeigen: Am Nil wird mit Hochgeschwindigkeit gebaut. Alleine in Assiut wurde in den vergangenen vier Jahren die Fläche von 280 Fussballfeldern verbaut. Den neuen Siedlungen fiel meist landwirtschaftlich genutzter Boden zum Opfer. Die verlorene Ackerfläche wird der Wüste jedoch nach und nach wieder abgerungen, indem Humus vom Nilufer angeschleppt und mittels Grundwasser-Bewässerung fruchtbar gemacht wird. Doch das Grundwasser aus tiefen Erdschichten ist endlich. Gesetze der Regierung in Kairo untersagen zwar den baulichen Wildwuchs und schränken den Verbrauch an Ressourcen ein. Wie die Studenten jedoch feststellten, entwickelt sich Assiuts Territorium weitgehend autonom von den Bestimmungen Kairos. Das von der Regierung bestimmte Wasserbudget für die Bewässerung der Felder wurde von Assiut um zehn Prozent überzogen, dies ohne dass die Stadt deswegen Sanktionen oder Strafen befürchten müsste. Auch die «Umzonung» von landwirtschaftlichem Land in Bauland wird grösstenteils an der Verwaltung in Kairo vorbei realisiert (siehe Kasten: Sieben Schritte zur Legalisierung von Bauland). «Wir waren vor allem überrascht, wie reibungsfrei die unkontrollierte Selbstverwaltung vonstatten geht. Die illegale Bautätigkeit und die vielen, von der Verwaltung in Kairo tolerierten Gesetzesverstösse sind eine Art Ventil für den enormen Druck, dem die Region durch die wachsende Bevölkerung ausgesetzt ist», sagt Mueller Inderbitzin. Er glaubt, dass der Staat gar kein Interesse an einer wirklichen Kontrolle des Siedlungswachstums und einer Unterbindung des Wildwuchses haben kann, denn staatliche Eingriffe könnten das relativ stabile und konfliktfreie System durcheinander bringen.

Moderne Geisterstädte infolge Fehlplanung

Anstrengungen der Regierung, das Bevölkerungswachstum in geordnete Bahnen zu lenken, sind laut den Beobachtungen der Studenten bislang misslungen. «New Assiut», eine am Reisbrett geplante, moderne Satellitenstadt, wenige Kilometer östlich der Altstadt gelegen, wurde vor rund 15 Jahren für 100`000 Bewohner konzipiert. Erst ein Zehntel der Häuser ist bis heute bezogen und viele Gebäude stehen noch immer im Rohbau. Die ETH-Studenten führen dies unter anderem darauf zurück, dass «New Assiut» für einen Mittelstand gebaut wurde, den es bis heute praktisch nicht gibt. Hinzu kommt, dass die gebauten Dreieinhalbzimmer-Wohnungen nicht den Bedürfnissen gewöhnlicher Familien entsprechen. Diese leben meist in grossen familiären Gemeinschaften eng zusammen - eine Wohnform, die sich schlecht mit kleinen Wohnräumen vereinbaren lässt. «Wir waren immer wieder erstaunt, wie archaisch und traditionell die Gesellschaft nach wie vor organisiert ist», erzählt Mueller Inderbitzin. Er vermutet, dass die Regierung mit «New Assiut» auch didaktische Ziele im Zeichen der Modernisierung verfolgte. Durch die Einführung neuer Wohnmuster sollten womöglich traditionelle Gesellschaftstrukturen aufgelöst werden.

Die Rahmenbedingungen für die Feldforschung waren nicht immer einfach: Oft musste sich das ETH-Team gegen Polizeieskorten wehren, die Ausländern bei Fahrten dem Nil entlang gemeinhin gewährt werden. «Das ist noch ein Relikt aus Zeiten, als die Gegend gefährlich war. Heute ist die Sicherheit für Ausländer überhaupt kein Problem mehr. Es handelt sich deshalb eher um Polizeiüberwachung als um Schutz», glaubt Mueller Inderbitzin. Zusätzliche Schwierigkeit war, dass die Studenten keinen Zugang zu offiziellem Kartenmaterial hatten, so dass sie sich ihre Pläne ausgehend von Satellitenaufnahmen aus Google Earth selber zusammenstellen mussten. Trotzdem gelang es den 21 Studenten vor Ort eine Fülle von Daten zu sammeln, die sie später in Basel während den acht verbleibenden Semesterwochen auswerteten.

Anderes Planungsverständnis

Die Ergebnisse der Feldforschung sind nicht in erster Linie als Anstoss für Veränderungen vor Ort gedacht, sondern viel mehr als Momentaufnahme. «Unsere Studien basieren alle auf persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen. Sie erheben keinen Anspruch vollständig oder repräsentativ zu sein», erklärt Mueller Inderbitzin. An die Schlusspräsentation in Basel wurden auch einige Kollegen aus Ägypten eingeladen. Bei der anschliessenden Diskussion zeigte sich jedoch nochmals, was bereits in Ägypten augenscheinlich war: In Basel und Assiut versteht man unter Städteplanung etwas anderes. «Unsere ägyptischen Kollegen konnten nur bedingt nachvollziehen, welche Ziele wir mit unserer Feldforschung verfolgen. In Assiut herrscht noch immer ein sehr technokratisches Planungsverständnis vor. Dort wird oft aus dem Universitätscampus oder aus Verwaltungsbüros heraus geplant, ohne dass sich die Architekten der sozialen, ökologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen für ihre Planungen wirklich bewusst sind­­», ist Mueller Inderbitzin überzeugt.