«Das ist ein starkes Zeichen»
Die EU-Forschungskommission nimmt zwei Vorzeigeprojekte mit ETH-Beteiligung in die Endrunde um die Vergabe von hunderten Millionen Euro auf. Aber erst 2012 wird klar, wer den Zuschlag erhält.
Die Projekte, die zur Diskussion stehen, sind gross, sehr gross sogar. Und sie sollen auch dementsprechend finanziert werden. Ab 2013 will die EU-Forschungskommission ein bis zwei europäische Grossprojekte, so genannte Flagship-Projekte, mit bis zu einer Milliarde Euro fördern. 26 Konsortien haben Bewerbungen eingereicht. Mittlerweile stehen die sechs Projekte fest, aus denen die Kommission 2012 den oder die beiden Sieger küren wird: FuturICT, Zukünftige Computerchips auf Graphenbasis, Guardian Angels, Human Brain Simulation Project, Individualisierte Medizin und Robot Companion. Die ETH Zürich ist sowohl bei FuturICT als auch bei Guardian Angels Co-Leading House. Die sechs Projektorganisationen erhalten nun je 1,5 Mio. Euro, um einen Antrag auszuarbeiten, der der EU-Forschungskommission als Entscheidungsgrundlage dienen wird.
Herr Siegwart, die Meldung des Tages-Anzeiger, dass die
Schweiz im Rennen um Milliarden aus dem EU-Forschungstopf beteiligt ist, klingt
viel versprechend. Stimmt diese Zahl?
Bei diesen Projekten geht es wirklich um sehr grosse europäische
Forschungsvorhaben und Konsortien, bei denen die Schweiz eine zentrale Rolle
spielt. Selbstverständlich fliesst nur ein Teil der Mittel effektiv auch in die
Schweizerischen Forschungsinstitutionen. Bei den EU-Forschungsflagships redet man von 100
Millionen Euro pro Jahr über zehn Jahre hinweg.
Was bedeutet es für Sie, für die ETH, dass die Schweiz an
vorderster Front dabei ist?
Wir können unheimlich stolz sein, dass aus den 26 Proposals sechs ausgewählt
wurden, an denen vier Schweizer Institutionen beteiligt sind. Wir sind
natürlich auch sehr stolz, dass die ETH Zürich die Nummer eins, das Projekt
FuturICT, und die Nummer drei, die Guardian Angels zusammen mit der EPFL, hat.
Es sind Bereiche, in welche die ETH schon lange investiert hat, weil sie frühzeitig
erkannt hat, dass es dabei um zukunftsweisende wissenschaftliche
Fragestellungen geht. Es bestätigt aber auch, dass wir ausgezeichnete Forscher
haben die Visionen entwickeln und voranbringen, und andere begeistern können
diese Visionen mitzutragen. Diese Projekte sind für uns eine Riesenchance. Das
sind «Man on the Moon»-Projekte, mit denen man einen grossen Schritt vorwärts
machen wird.
Die Wissenschaftler haben sich bisher zurückgehalten. Wie
stehen Sie dazu, dass die Tagespresse die Vorstadien der Projekte in die
Öffentlichkeit trägt?
Ich habe nichts dagegen, dass das Thema bereits aufgegriffen wurde. Es ist sehr
erfreulich, dass drei der sechs Projekte eine starke und ein weiteres eine
mittelgrosse Schweizer Beteiligung haben. Das ist ein Zeichen dafür, dass die
Schweizer Forschung sehr gut dasteht und exzellente Wissenschaft gemacht wird.
Der Schweizer Anteil an den ausgewählten Projekten ist ja stark
überproportional.
Woher kommt diese wissenschaftliche Exzellenz?
Ich bin überzeugt, dass wir Forschung auf die richtige Art betreiben, und zwar
Bottom-up. Wir versuchen, die besten Leute an die ETH zu berufen und geben
ihnen hohe Autonomie. Die Forscher können nämlich am besten selbst definieren,
welches die grossen Herausforderungen der Zukunft sind. Ich bin klar der
Meinung, dass dies am besten funktioniert. Das zeigt sich nun auch bei diesen
EU-Grossprojekten. Politisch motivierte Programmforschung funktioniert nicht so
gut.
Woher stammen die Mittel für diese Forschungsprojekte?
Ein grosser Teil der Mittel stammt von der EU-Forschungskommission selbst, ein
weiterer Teil wird voraussichtlich über Matching Funds von den Länderpartnern
und den beteiligten Hochschulen erwartet. Wenn die Schweiz also im Extremfall
zwei solche Grossprojekte erhalten würde, dann müsste sie ihren Beitrag dazu
leisten. Die Details des Verteilungsschlüssels werden derzeit aber in Brüssel noch diskutiert.
Nach welchen Kriterien wurden die Projekte ausgewählt und
was ist Ihre Aufgabe in diesem Prozess?
Dieser Erfolg basiert auf der Qualität der Projekte, die von internationalen
Top-Forschern beurteilt wurde. Es geht einzig um die wissenschaftliche Qualität
und das vorgeschlagene Forschungsprogramm. Das gilt bis jetzt zum Glück für alle
EU-Projekte. Weil die Flagships eine so grosse Dimension haben, bei der auch strategische
und finanzielle Aspekte der ETH mitberücksichtigt werden müssen, bin ich bis zu
einem gewissen Grad involviert, etwa um die Projektleiter zu unterstützen.
Wie sieht diese Unterstützung aus?
Eine Hauptaufgabe ist es jetzt, die Projektteams so zu verstärken, dass aus
den Vorprojekten erfolgreiche Projektvorschläge entstehen. Die Unterstützung soll
das, was schon sehr gut ist, noch verstärken. Wir haben zudem das
EUResearch-Team, das die Forschenden bei der Administration und beim
Projektmanagement unterstützt. Im Weiteren geht es auch darum, Kontakte mit zusätzlichen Projektpartnern zu
knüpfen und die Unterstützung der verschiedenen
Forschungsförderungsinstitutionen der Schweiz zu gewinnen. Aber die Meriten gehen
an die Leute, welche die Flagship-Projekte entwickelt haben. Ich möchte ihnen
daher an dieser Stelle recht herzlich für die grossartige Arbeit gratulieren.
Zwei Flagship-Projekte mit ETH-Beteiligung
Die ETH Zürich unter der Leitung von Professor Dirk Helbing und das University College of London mit Professor Steven Bishop sind Leading Houses von FuturICT. Dieses Projekt integriert Informations- und
Kommunikationstechnologien (ICT), Komplexitätsforschung und
Sozialwissenschaften, um nicht weniger zu erschaffen als ein Modell des
Planeten Erde. Zentral dabei soll die weltumspannende Plattform «Living Earth
Platform» werden, auf der riesige Datenmengen gespeichert und verarbeitet
werden. Anhand dieser Daten wollen die Forscher verstehen lernen, wie
menschliche Gesellschaften funktionieren. Daraus sollen Modelle entstehen,
anhand derer die Aus- und Nebenwirkungen von Entscheidungen auf die
Gesellschaft vorhergesagt werden können. So könnte virtuell die Zukunft getestet werden, um Entscheide grosser
Tragweite besser treffen zu können. Mit der Living Earth Platform soll es auch
möglich werden, Aussagen über bevorstehende Krisen zu machen. Für FuturICT
müssen die Forschenden jedoch ein Computersystem aufbauen, das gross genug ist,
um globale Vorgänge zu simulieren.
Das Projekt «Guardian Angels» hingegen zielt auf die Entwicklung und
Anwendung von autonomen Systemen aus Sensoren und informationsverarbeitenden
Chips, die ohne externe Energiequellen auskommen sollen. Die Leading Houses ETH
Lausanne und ETH Zürich streben intelligente autonome Systeme an, die ihre
Energie aus alternativen Quellen beziehen, wie der Sonne, aus Körperwärme oder
Bewegungen und Vibrationen. Technologische Durchbrüche erzielt werden müssen
sowohl auf der Seite der Mikro- oder Nanochips für äusserst geringen
Energieverbrauch als auch auf der Seite der so genannten Energy-Harvesters und allenfalls
der Zwischenspeicher für eine stark verbesserte Effizienz. So sollen
beispielsweise Sensornetzwerke entwickelt werden, welche verschiedene
Körperfunktionen und die nähere Umwelt von Personen überwachen. Koordinatoren
des Projektes sind Adrian Ionescu, Direktor des Nanolab an der EPFL, und
Christofer Hierold, Professor für Mikro- und Nanosysteme der ETH Zürich. Die so
entwickelten Technologien und Systeme werden auch helfen, den Energieverbrauch
von Rechnern gegenüber heutigen Modellen massiv zu senken und dadurch neue
bisher unbekannte Anwendungen zu ermöglichen.
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