Veröffentlicht: 12.09.11
Science

Mit dem Genprofil zum Arzt

Die Medizin der Zukunft ist die «Personalisierte Medizin», die abgestimmt ist auf die individuelle genetische Ausstattung, sagt Ernst Hafen, Professor für Molekulare Systembiologie an der ETH Zürich, im Interview. Ein Symposium im Technopark lanciert die öffentliche Diskussion.

Interview: Peter Rüegg
Ernst Hafen, Professor für Molekulare Systembiologie, über personalisierte Medizin: In wenigen Jahren wird es noch wenige hundert Franken kosten, sein persönliches Genom bestimmen zu lassen (Bild: Giulia Marthaler / ETH Zürich).
Ernst Hafen, Professor für Molekulare Systembiologie, über personalisierte Medizin: In wenigen Jahren wird es noch wenige hundert Franken kosten, sein persönliches Genom bestimmen zu lassen (Bild: Giulia Marthaler / ETH Zürich). (Grossbild)

Ernst Hafen hält ein grossformatiges Buch mit hunderten von Seiten, legt es vor sich auf den Tisch und schlägt es auf. Die Doppelseite wirkt grau. Von blossem Auge ist kaum zu erkennen, dass die graue Fläche aus winzigen Buchstaben besteht. Erst mit der Lupe sind diese zu erkennen: G, C, A, T – die Abkürzungen für die vier Bausteine der Erbsubstanz. Dieses Buch enthält die Sequenz des menschlichen X-Chromosoms, die bekannten Gene sind fett hervorgehoben. 154 Millionen Buchstaben sind so festgehalten, rund 250'000 auf einer Seite. Das X-Chromosom ist eines von 46 Chromosomen, deren Sequenz zusammen sechs Milliarden Buchstaben enthält. Diese Genomsequenz ist die Grundlage für ein neues Konzept, die so genannte «personalisierte Medizin». In wenigen Jahren wird es möglich sein, dass Millionen von Menschen über ihre eigene Genomsequenz verfügen werden. Diese Sequenzen können in anonymisierter Form der Forschung zur Verfügung gestellt werden und werden eine wichtige Grundlage für Diagnose und Therapie spielen.

Forscherinnen und Forscher widmen dem Thema in dieser Woche zwei hochkarätige Veranstaltungen. Im Technopark kommen morgen Dienstag führende Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter zusammen, ab Mittwoch wird im Rahmen der Academia Engelberg an drei Tagen die personalisierte Medizin interdisziplinär betrachtet.

Ernst Hafen, um von der personalisierten Medizin profitieren zu können, müsste jeder Mensch sein Genom sequenzieren lassen. Ist das realistisch?
In zwei bis drei Jahren werden wir für höchstens 200 Franken alle sechs Milliarden Buchstaben Ihres oder meines gesamten Genoms bestimmen können. Was wir bereits jetzt wissen, ist, dass sich Ihre und meine Sequenzen nur gerade in einem von 1000 Buchstaben unterscheiden. Diese kleinen Unterschiede erklären im Wesentlichen den Unterschied zwischen uns beiden: Grösse, Aussehen und so weiter. Daran erkennt man die Herausforderung, erklären zu können, wie diese Unterschiede wesentlich zur Anfälligkeit auf Krankheiten beitragen.

Diese Unterschiede betreffen aber nicht nur die Gene, sondern auch die nicht kodierenden Abschnitte zwischen einzelnen Genen, die teilweise viel grösser sind.
Die meisten Unterschiede bestehen in DNS-Abschnitten zwischen einzelnen Genen. Viele davon haben gar keinen Effekt. Einige beeinflussen aber möglicherweise, wann und wo ein Gen angeschaltet wird. Sie und ich haben die gleichen Gene. Aber der Zeitpunkt, ab wann und wie stark diese Gene angeschaltet werden, macht zu einem wesentlichen Teil den Unterschied zwischen uns aus. Deshalb brauchen wir Methoden, um die Genaktivität quantitativ messen zu können, nicht nur qualitativ. Aus diesen genotypischen Unterschieden möchten wir die phänotypischen erklären können. In den meisten Fällen ist das enorm schwierig, weil Krankheiten ja nicht nur auf Veranlagung beruhen, sondern auch auf Umwelteinflüssen, wie zum Beispiel Ernährung. Ausserdem ist in der grossen Mehrheit der Fälle nicht nur ein Gen für eine Krankheit verantwortlich, sondern mehrere im Zusammenspiel.

Wäre es dann nicht besser, die Genprodukte, also Proteine, zu bestimmen anstatt der Buchstabenfolge des Genoms?
Wir bewegen uns zwischen zwei Extremen. Einerseits haben wir den genetischen Bauplan, den Genotyp, andererseits den Phänotyp, also die Ausprägung, den gesunden oder kranken Menschen. Letztlich müssen wir schauen, wie aus dem Genotyp der Phänotyp wird. Dazwischen gibt es unzählige Zwischenschritte, die auch von Umweltfaktoren beeinflusst werden. Je mehr Informationen wir zwischen A und B haben, desto besser verstehen wir, wie es vom Bauplan, der Genomsequenz, zum Resultat, dem Phänotyp, einer Krankheit, kommt. Das ist im Prinzip eines der Ziele der personalisierten Medizin. Dazu kommt die Familiengeschichte, die ebenfalls genetisch bedingt ist und bis heute als aufschlussreicher gilt als die reine DNS-Sequenz. Findet man in einer Familie Anfälligkeit für Brustkrebs, dann weiss man heute, dass dies auf bestimmte Genvarianten zurückzuführen ist.

Wenn solche Genvarianten in einer Familie drin sind, müsste man für alle noch lebenden Familienmitglieder die DNS sequenzieren. Ist das nicht immens teuer?
Damit sind wir beim technischen Fortschritt. Das erste gesamte Genom eines Menschen zu sequenzieren, kostete vor zehn Jahren noch drei Milliarden US-Dollar. In zwei Jahren wird es wohl weniger als 1000 Dollar kosten, weil der technische Fortschritt so enorm ist. Darauf ist unsere Gesellschaft jedoch nicht vorbereitet. Darauf zielt auch unsere Sensibilisierungskampagne für personalisierte Genomik und genetische für Konsumenten geeignete genetische Tests. Die Kampagne haben wir beim Schweizerischen Nationalfonds zur Finanzierung eingereicht und möchten damit die Diskussion über personalisierte Medizin anstossen.

Was muss Ihrer Ansicht nach dringend diskutiert werden?
Wenn Sie Ihr Genom bestimmen lassen könnten, wüssten Sie etwas über sich selber und Ihre Eltern, aber auch über Ihre Kinder, da sie die Hälfte ihrer Gene von Ihnen haben, bzw. an die Kinder weitergeben haben. Will man das wirklich? Soll man es den Kindern sagen, wenn man merkt, dass man Träger einer genetisch festgelegten Krankheit ist? Für die Forschung sind diese Zusammenhänge natürlich sehr wichtig.

Aber was mache ich persönlich, wenn ich nun aufgrund der Genomanalyse erkenne, dass ich für Krebs oder Diabetes anfällig bin?
Sie können sich frühzeitig damit befassen, was Sie tun können, um das Auftreten der Krankheiten zu verhindern. Zum Beispiel über Ernährung und Sport. Sie sind sich dessen bewusst und passen ihren Lebensstil entsprechend an. Dazu ein Beispiel: Die Ehefrau des Google-Gründers Sergei Brin hat eine Firma namens «23andme» gegründet. Diese Firma hat vor fünf Jahren angefangen, Genomanalysen anzubieten. Brin machte den Test und fand heraus, dass er von seiner Mutter, die selbst an Parkinson erkrankt ist, die Genvariante geerbt hat, die sein eigenes Risiko an Parkinson zu erkranken, stark erhöht. Er hat daraufhin seinen Lebensstil angepasst und investiert vermehrt in Parkinsonforschung. Weil diese Forschung aber sehr langsam vor sich geht, investiert er auch in Firmen wie «23andme». Denn die gewonnene Genominformation von Millionen von Leuten kann so in anonymisierter Form der Forschung zur Verfügung gestellt werden.

Was macht die Forschung mit solchen Daten?
Die Forschung hat die Möglichkeit, aus den Daten neue Korrelationen zu finden, die bisher unbekannt waren. Bei Diabetes Typ 2 kennt man vielleicht 10 Prozent der Gene, die etwas mit dem erblichen Faktoren zu tun haben.

Was tun, wenn man die Gene kennt, die für eine Krankheit relevant sind? Kann man Hemmstoffe einsetzen, die die Aktivität dieser Gene beeinflussen?
Ja, das macht man bereits. Von Hautkrebs gibt es verschiedene Arten. Morphologisch sind sie gleich, sie entstehen aber anders, denn in Krebszellen entstehen viele neue Mutationen. Es gibt nun eine Klasse von Hautkrebszellen, in denen ein bestimmtes Gen defekt ist. Wenn man nun um die entsprechende Mutation weiss und das Genom der Krebszelle sequenzieren kann, dann kann man einen Hemmstoff gezielt bei den Patienten einsetzen, die diesen Gendefekt haben. Bei anderen, bei denen diese Mutation nicht vorhanden ist, nützt der Hemmstoff nichts. Das ist eines der frühen Beispiele der Anwendungen für personalisierte Medizin.

Personalisierte Medizin klingt, weil sie das Individuum in den Fokus setzt, aufwändig und teuer.
Mit personalisierter Medizin hat man bessere Therapiemöglichkeiten, die dazu beitragen, bestehende Medikamente gezielter einzusetzen. Wird zum Beispiel ein Medikament für die Behandlung der besagten Hautkrebsmutation entwickelt, lohnt es sich nicht, dieses bei einem Patienten einzusetzen, der diese Mutation nicht hat. So wird die Ausfallrate von Medikamenten verringert. Das wird meiner Meinung nach zur Reduktion von Entwicklungskosten führen, weil man Medikamente gezielter testen kann. Die Tatsache, dass man besser und gezielter therapieren oder vorbeugen kann, so dass gewisse Krankheiten nicht zum Tragen kommen, macht auch teure Behandlungen unnötig. Man muss daran denken, dass Sie und ich uns nur in einem von 1000 Buchstaben unterscheiden. Es ist also nicht so, dass jeder Mensch ein anderes Medikament braucht, er braucht eine andere Kombination von Medikamenten. Anderseits ist eine berechtigte Befürchtung von Skeptikern der personalisierten Genomanalysen - zu denen auch viele Ärzte gehören -, dass Leute diese Daten nicht richtig interpretieren können und das Gesundheitssystem mit der Forderung nach weiteren Vorbeugeuntersuchung überschwemmen. Hier gibt es einen grossen Bedarf für Dialog und Aufklärung. Etwas worauf unsere Sensibilisierungskampagne abzielt.

Was heisst das für die Ärzte? Brauchen sie ein molekulargenetisches Labor?
Nein, aber ein Arzt muss verstehen, worum es geht. Viele Ärzte wissen relativ wenig über Genetik und Genomanalysen. Das heisst, dass die Ausbildung angepasst werden muss. Ein Arzt muss mit den Genomdaten umgehen können. Ärzte werden mehr und mehr zu Gesundheitscoachs. Diese Diskussion müssen wir genauso führen wir diejenige der Datensicherheit oder der Individualisierung der Daten. Was passiert mit meinen Daten? Ist mir wohl dabei, wenn eine Firma, in die Google investiert, meine Genomdaten hat? Für mich persönlich ist das kein Problem. In USA wird aber heftig debattiert und ich denke auch, dass in der Schweiz vielen Leuten nicht wohl ist, wenn ihre Genomdaten von Firmen gespeichert werden.

Google steht als Datenkrake eher in einem schiefen Licht.
Gerade deshalb hat die Schweiz jetzt die Chance, etwas Neues aufzubauen, zum Beispiel eine Institution auf Non-Profit-Basis zu schaffen, die mit den Top-Forschungseinrichtungen weltweit zusammenarbeitet. Aber das sind Zukunftsvisionen. Die Diskussionen über personalisierte Medizin muss nun aber zügig angestossen werden. «23andme» oder das Buch über das X-Chromosom deuten an, wo wir in zwei Jahren stehen. Wir sollten jetzt darüber sprechen.

Was passiert, wenn meine Krankenversicherung erfährt, dass ich eine Krankheit entwickeln werde, die sie viel kosten wird?
Dazu gibt es seit 2007 ein Gesetz, das die Verwendung von genetischen Daten für die Grundversicherung und für Arbeitgeber verbietet. Aber wenn ich eine Lebensversicherung über eine halbe Million Franken abschliessen will, dann wird mich die Versicherung nach meinem genetischen Profil fragen und dieses sehen wollen. Das halte ich jedoch für fair. Schon jetzt wird mich ein Vertrauensarzt der Versicherung nach meiner Familiengeschichte und meinem Lebensstil befragen – und dies ist heute immer noch aussagekräftiger als meine Genomanalyse.

Personalisierte Medizin - Kongresse

Am kommenden Dienstag, 13. September 2011, findet am Technopark ein eintägiges Symposium zum Thema Personalisierte Medizin statt. An dieser Veranstaltung treten Fachleute aus Wissenschaft und Wirtschaft auf. Eine Podiumsdiskussion, an der unter anderem eine Vertreterin von «23andme» teilnehmen wird, schliesst die Veranstaltung ab. Dem Thema ist auch die diesjährige Academia Engelberg gewidmet, die am Mittwoch, 14. September 2011, beginnt. Dieser Anlass dauert drei Tage, an denen ebenfalls führende Experten aus Wissenschaft, Gesundheitswesen, der Privatwirtschaft, aus Ethik und Politik werden sich über die kontroversen Folgen der aufkommenden Technologie austauschen.