Veröffentlicht: 22.03.12
Science

Diskussion um Weltsimulator

Das Forschungsgrossprojekt FuturICT wurde auch schon als Wissensbeschleuniger, Welterklärungsmaschine und Erdsimulator bezeichnet. Am Mittwoch diskutierten Wissenschaftler an der ETH Zürich über das Vorhaben, das Aussicht hat auf eine grosszügige finanzielle Unterstützung der EU.

Fabio Bergamin
Am Podiumsgespräch nahmen unter anderem die eingeladenen Wissenschafler Andrzej Nowak, Dirk Helbing, Peter Hedström (Diskussionsleiter) und Jeroen van den Hoven teil (von links nach rechts). (Bild: Fabio Bergamin / ETH Zürich)
Am Podiumsgespräch nahmen unter anderem die eingeladenen Wissenschafler Andrzej Nowak, Dirk Helbing, Peter Hedström (Diskussionsleiter) und Jeroen van den Hoven teil (von links nach rechts). (Bild: Fabio Bergamin / ETH Zürich) (Grossbild)

Zwei wissenschaftliche Grossprojekte – sogenannte EU-Flaggschiffprojekte – sollen während der nächsten zehn Jahre von der EU mit jährlich je 50 Millionen Euro finanziert werden. Derzeit läuft das Auswahlverfahren zwischen den letzten sechs Projekten, die noch im Rennen sind. In der Wissenschaftsgemeinschaft wird nicht nur darüber debattiert, welche der in der engeren Auswahl stehenden Projekte zum Zug kommen sollen. Es geht auch um die Frage, ob Forschungsgelder sinnvoller in Grossprojekte investiert oder ob kleinere Projekte breit gefördert werden sollen. Um den unterschiedlichen Fragen nachzugehen, veranstalten die Akademien der Wissenschaften Schweiz Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu den sechs Projektkandidaturen. Am Mittwoch stand das Projekt FuturICT auf dem Programm, dessen wissenschaftlicher Koordinator Dirk Helbing ist, Professor für Soziologie an der ETH Zürich. Rund 100 Interessierte nahmen an der Veranstaltung in der vollbesetzten Semper-Aula teil.

FuturICT möchte neue Technologien entwickeln, die den Umgang ermöglichen mit grossen Datenmengen («Big Data»), die in unserer vernetzten Welt entstehen. Ziel ist, aus der Analyse solcher Daten neues Wissen zu gewinnen, das unter anderem helfen soll, zukünftige politische und wirtschaftliche Krisen zu vermeiden. FuturICT hat hochgesteckte Ambitionen, die in den vergangenen Monaten auch in den Medien Anlass zu Diskussionen gaben. Ob die Ziele überhaupt realistisch seien, wurde etwa in Frage gestellt. Aber auch der Umgang des Projekts mit persönlichen Daten wurde kritisch hinterfragt.

Mitwirkung der Öffentlichkeit

Um den Kritikern zu begegnen, welche FuturICT als unrealistisch bezeichnen, haben Dirk Helbing und weitere am Projekt beteiligten Wissenschaftler an der Veranstaltung festgehalten, was von FuturICT zu erwarten ist. FuturICT sei keine Kristallkugel und löse auch nicht alle Probleme der Zukunft, sagte Helbing sinngemäss. Doch im Rahmen des Projekts würden Methoden und Werkzeuge erarbeitet, die sehr wohl bei der Lösung zukünftiger Probleme helfen könnten.

Während die Projektverantwortlichen in der Vergangenheit noch die Bedeutung des Projekts für weltweite Entscheidungsträger herausgestrichen haben, betonten sie am Mittwoch den Nutzen für die ganze Gesellschaft. «Wir möchten unsere Daten öffentlich zugänglich machen. Die Gesellschaft hat ein Recht, über ihre Daten Bescheid zu wissen und von den daraus gewonnenen Erkenntnissen zu profitieren», so Helbing. Die beabsichtigte Öffnung des Projekts schlägt sich auch in einem neuen Untertitel von FuturICT nieder: Während früher von «Global computing for our complex world» die Rede war, sprechen die Projektverantwortlichen heute von «Participatory computing for our complex world».

Datenschutz-Diskussion nicht Firmen überlassen

Je offener das Projekt geführt wird, je mehr Daten öffentlich zur Verfügung gestellt werden und je mehr Daten von Dritten ins Projekt einfliessen, desto grösser ist allerdings das Missbrauchspotenzial: Daten könnten gestohlen oder verfälscht werden, auch mit krimineller Absicht. «Es ist eine schwierige Aufgabe, Daten öffentlich zugänglich zu machen, ohne dass sie missbraucht werden», sagte Helbing. «Im Moment gibt es dafür noch keine Werkzeuge.»

Allerdings sei der Datenschutz nicht nur bei FuturICT eine zentrale Frage, sondern in der ganzen Gesellschaft, gab Jeroen van den Hoven, Professor für Moralphilosophie an der Technischen Universität Delft, zu bedenken. Man könne nicht erwarten, dass mit persönlichen Daten arbeitende Firmen wie Google die Datenschutz-Diskussion aus eigenem Antrieb führten und die Gesellschaft vor Missbrauch schützten. FuturICT biete die Gelegenheit, eine ethische Diskussion darüber zu führen, wie wir Big Data und Informations- und Kommunikationstechnologien in unserer Gesellschaft nutzen wollen, ähnlich der Debatte über die Genetik und das Klonen. «Es reicht nicht, dass die Geisteswissenschaften die technischen Entwicklungen und die damit verbundenen Herausforderungen erst verzögert aufgreifen», so auch Helbing.

Eine noch nicht abschliessend geklärte Frage ist etwa jene nach dem Eigentum von persönlichen Daten, wie sowohl Andrzej Nowak, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Warschau, als auch Donald Kossmann, Professor am Institut für Informationssysteme der ETH Zürich, sagten. Insbesondere gelte es, neue Konzepte wie jenes des geteilten Eigentums weiterzuentwickeln. Persönliche Daten können bei diesem Konzept gleichzeitig der Person selbst gehören als auch in anonymisierter Form jemandem, der eine Datensammlung betreibt. «Um ein geteiltes Eigentum von Daten zu ermöglichen, müssen noch juristische und technische Fragen geklärt werden», sagte Kossmann.

Vorteile des Grossprojekts

An der Podiumsdiskussion am Ende der Veranstaltung wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob ein Grossprojekt wie FuturICT einen Mehrwert schaffe gegenüber mehreren kleineren Projekten in diesem Forschungsfeld. Was durch die gigantische Finanzierung möglich sein werde, was sonst nicht erreicht würde, fragte jemand aus dem Publikum. «Vieles, was bei FuturICT erforscht wird, würde auch ohne das Grossprojekt erforscht werden», sagte Kossmann. Doch gerade wegen der Bedeutung der Erkenntnisse und dem Missbrauchspotenzial bestünde ein Interesse, die Fragen jetzt geordnet im Rahmen von FuturICT anzugehen und das Feld nicht irgendwem zu überlassen.

Helbing wies darauf hin, dass Geisteswissenschaftler in der Vergangenheit in kleinen Forschungsgruppen gearbeitet haben. Die Grösse von FuturICT ermögliche eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unter anderem von Geistes- und Computerwissenschaftlern in grösseren Gruppen. Erst dadurch sei es möglich, die komplexen Fragen anzugehen, davon ist Helbing überzeugt. Die Finanzierung durch die EU werde den Erkenntnisgewinn wesentlich beschleunigen, wurde gesagt. Dank des Projekts würden ausserdem viele zusätzliche Experten für den Umgang mit komplexen Systemen und das sogenannte Data-Mining ausgebildet. Also Fachleute, die aus grossen Datenmengen neues Wissen gewinnen können. Wirtschaft und Politik seien mehr denn je auf solche Experten angewiesen, sagte Helbing.

Und was geschieht bei Projektende mit der gigantischen Infrastruktur, die im Rahmen von FuturICT aufgebaut wurde? Wird sie etwa kommerzialisiert und entsteht so etwas wie ein «Super-Google»? «Das Projekt soll in den Händen der Gesellschaft bleiben», sagte Helbing. Und er relativierte auch Vergleiche von FuturICT mit anderen wissenschaftlichen Grossprojekten wie dem Apollo-Raumfahrtsprogramm oder dem Kernforschungszentrum Cern: «Apollo war mindestens 25-mal grösser, das Programm zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms, der Fusionsreaktor Iter und die Forschung am Cern sind zehnmal grösser.»