Veröffentlicht: 04.07.12
Science

Spuren führen an die ETH

Das Cern hat Wissenschaftsgeschichte geschrieben: Seine Forscherinnen und Forscher haben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Boson, möglicherweise das Higgs-Boson als letztes fehlendes Teilchen des Standardmodells der Teilchenphysik, nachweisen können. Zum wissenschaftlichen Durchbruch haben Physiker der ETH Zürich massgeblich beigetragen.

Peter Rüegg
Ein Gigant misst Spuren winzigster Teilchen: Der Compact Muon Solenoid (CMS) beim Zusammenbau.
Ein Gigant misst Spuren winzigster Teilchen: Der Compact Muon Solenoid (CMS) beim Zusammenbau. (Grossbild)

Die Suche nach dem Higgs-Boson und anderen möglichen neuen Teilchen ist wohl eines der grössten wissenschaftlichen Experimente aller Zeiten. Das «Labor», in dem das Teilchen gefunden wurde, übertrifft alles. Dazu gehört der Large Hadron Collider (LHC), ein Ringbeschleuniger der Superlative, der in einem 27 Kilometer langen, ringförmigen unterirdischem Tunnel steckt und auf minus 271 Grad Celsius heruntergekühlt wird. Protonen kreisen 11'000 Mal pro Sekunde mit Fast-Lichtgeschwindigkeit durch die Vakuumröhre und treffen in vier Detektoren LHCb, Alice sowie Atlas und CMS (Compact Muon Solenoid) mit hoher Energie aufeinander. Die Detektoren vermessen die Spuren von den bei diesen Kollisionen entstandenen Teilchen. Auf dem Bildschirm sichtbar werden die Leuchtspuren, die darauf analysiert werden, ob das postulierte Higgs-Boson existiert.

Und tatsächlich: Die Cern-Wissenschaftler haben aus dem gigantischen Zahlenberg nun mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein neues Teilchen gefunden, bei dem es sich um das Higgs Boson handeln könnte, und damit Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Anteil an diesem grossen Erfolg haben Tausende von Forscherinnen und Forscher aus aller Welt. Allein am CMS-Experiment sind 179 wissenschaftliche Institute aus 41 Ländern beteiligt.

Führende Rollen für Schweizer Forschung

Wie bei der Suche nach dem Higgs-Boson lassen sich Spuren finden, die zu Physikerinnen und Physiker der ETH Zürich, des Paul Scherrer-Institutes und der Universität Zürich führen. Diese Institutionen haben führende Rollen bei der Planung und dem Bau des CMS-Experiments eingenommen und spielen diese auch heute beim Betrieb und bei der Datenanalyse. Dabei arbeiten sie zusammen und betreiben gemeinsam einen Computer-Cluster zur Analyse von CMS-Daten am PSI. Sie werden finanziell unterstützt vom Kanton Zürich, der ETH Zürich, dem PSI, dem ETH-Rat und dem Schweizer Nationalfonds.

«Wir arbeiten zwar in einem internationalen Beziehungsrahmen. Innerhalb dieser sehr kollaborativen Forschung sind wir in einigen Gebieten jedoch federführend dabei», sagt Rainer Wallny, ETH-Professor für Teilchenphysik. Mit anderen Worten: ETH-Forschende waren an der Suche nach dem Higgs-Boson sehr aktiv beteiligt. Die ETH ist seit anfangs der 1990er Jahre Mitglied der CMS-Kollaboration. Damals legten die Professoren Ralph Eichler, heute Präsident der ETH, Hans Hofer und Felicitas Pauss den Grundstein zum starken Engagement im CMS-Experiment.

Starkes ETH-Engagement

Nach dem Rücktritt von Hans Hofer übernahm Felicitas Pauss die Leitung der ETH-Gruppe und konzentrierte sich vor allem auf den Bau des hoch spezialisierten Kristall-Kalorimeters, einem Herzstück des CMS-Detektors. Für dieses Kristallkalorimeter, das aus rund 76'000 Blei-Wolframat-Kristallen besteht, leisteten Felicitas Pauss zusammen mit weiteren ETH-Physikern bereits in der Forschungs- und Entwicklungsphase wichtige Beiträge. In der Bauphase waren sie mitverantwortlich für die Charakterisierung der Kristalle, den Bau bestimmter Elektronikkomponenten, die Integration der Elektronik und die Inbetriebnahme. Von 2001 bis 2008 war Felicitas Pauss verantwortlich für alle wissenschaftlichen, technischen und finanziellen Belange rund um das CMS-Engagement der ETH Zürich. Neben ihrer wissenschaftlichen Funktion nahm die Professorin innerhalb der CMS-Kollaboration auch Managementfunktionen wahr, etwa als Mitglied des Vorsitzes.

Mit Abschluss der Aufbauarbeit des Kalorimeters und des CMS hat sie im Cern eine neue, wichtige Aufgabe übernommen: Seit 2009 ist sie zuständig für internationalen Beziehungen und damit Mitglied des Cern-Managements.

Grosse Verantwortung für Daten

Deutliche Spuren führen aber auch zu Günther Dissertori, seit 2001 Professor für Teilchenphysik der ETH Zürich. Von Beginn an war er für das Detektorkontrollsystem des Kristallkalorimeters verantwortlich. Von 2010 bis 2011 war er stellvertretender wissenschaftlicher Koordinator. In dieser Funktion war er auch dafür verantwortlich, Resultate, die nach aussen getragen wurden, zu sichten und letztlich zu entscheiden, ob sie veröffentlicht werden durften. «Damit war eine grosse Verantwortung verbunden», sagt Dissertori, «diese wurde allerdings auf Konsens ausgelegt.» Turnusgemäss gab er dieses Amt Ende 2011 ab. Mittlerweile steht er dem sogenannten ECAL Institution Board vor, einem Gremium, das alle am Bau des Kristallkalorimeters beteiligten Institute vereint. Er konzentriert sich auf alle Aspekte des Kalorimeters und kümmert sich um die Zusammenarbeit der beteiligten Wissenschaftler.

Zusammen mit Rainer Wallny und Christoph Grab ist Günther Dissertori zudem für einen Teil der Auswertungen und Berechnungen der CMS-Daten verantwortlich. Wallny wurde vor zwei Jahren an die ETH berufen und arbeitete zuvor an der University of California, Los Angeles, und am Fermilab bei Chicago, dem Konkurrenzprojekt zum LHC. Der Teilchenphysiker ist spezialisiert auf die Datenauswertung, arbeitet aber auch am Ausbau des im CMS integrierten Pixeldetektors. Mit seiner Berufung an die ETH hat er eine Offensive bei der Datenauswertung gestartet, welche nun Früchte getragen hat.

Der Vierte im Bunde ist Christoph Grab, der federführend ist beim schweizweit betriebenen Computer-Cluster zur Datenauswertung am CSCS und beim gemeinsam mit der Universität Zürich und dem PSI betriebenen Analysezentrum am PSI. «In meiner langjährigen Erfahrung an anderen Beschleunigern ist dieser Moment der ‚Entdeckung von Neuland‘ absolut unvergleichlich!», sagt Grab.

Zusammen werten die ETH-Professoren mit ihren Gruppen an vorderster Front die Daten von drei der insgesamt fünf wichtigen Higgs-Kanäle aus, zum Beispiel den Gamma-Gamma-Kanal.

Fundament für Experiment

Den Boden für das Auffinden des Higgs-Bosons bereitet haben neben den Wissenschaftlern aus diesen vier Kerngruppen auch weitere Wissenschaftler der ETH Zürich, nicht zuletzt Charalampos Anastasiou, Professor am Institut für Theoretische Physik der ETH Zürich. Seine Überlegungen und komplexen Berechnungen liessen präzise Voraussagen darüber zu, welche der Kollisionsprodukte Higgs-Bosonen sein könnten. Für diese Leistung erhielt er den Latsis-Preis der ETH 2009.

 
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