Veröffentlicht: 04.09.12
Science

Cholesterinsenker hemmen Lymphgefässwachstum

Eines der weltweit meistverwendeten Medikamente wirkt möglicherweise auch gegen die Bildung neuer Lymphgefässe und könnte daher für den Einsatz in der Krebsmedizin interessant werden. Diesen völlig überraschenden Befund machten Forschende der ETH Zürich mit einem von ihnen entwickelten dreidimensionalen Zellkultursystem.

Fabio Bergamin
Neues 3D-Zellkultursystem: Lymphgewebezellen bilden auf Mikrokügelchen Zellaussprossungen (Mikroskopiebild). (Bild: Martin Schulz / ETH Zürich / PNAS)
Neues 3D-Zellkultursystem: Lymphgewebezellen bilden auf Mikrokügelchen Zellaussprossungen (Mikroskopiebild). (Bild: Martin Schulz / ETH Zürich / PNAS) (Grossbild)

Forschende des Instituts für Pharmazeutische Wissenschaften haben eine völlig unerwartete Entdeckung gemacht. Auf der Suche nach neuen Wirkstoffen, die bei Tumoren die Metastasen-Bildung hemmen und nach Transplantationen eine Organabstossung vermeiden, fanden sie Hinweise darauf, dass auch eine altbekannte Gruppe an Medikamenten hierbei helfen könnte: die Statine. Es sind dies Substanzen, die wegen ihrer cholesterinsenkenden Wirkung sehr häufig bei Patienten mit Herzkreislaufproblemen eingesetzt werden, um das Fortschreiten einer Arteriosklerose zu verhindern. Statine gehören zu den weltweit meistverwendeten Medikamenten überhaupt.

Wissenschaftler unter der Leitung von Michael Detmar, Professor für Pharmakogenomik, machten diese Entdeckung mit einem neuen Zellkultursystem, mit dem sie untersuchen können, ob Wirkstoffe das Wachstum von Lymphgefässen beeinflussen. Das Wachstum von Lymphgefässen ist daran beteiligt, dass sich bei Krebspatienten Metastasen bilden sowie dass ein transplantiertes Organ vom Immunsystem des Empfängers abgestossen wird. Für ihr Testsystem beschichteten die Forschenden winzige Kügelchen aus einem Naturkunststoff mit Lymphgefässwand-Zellen aus menschlicher Haut und gossen diese in ein Gel. Wurden die Lymphgefässwand-Zellen in diesem System mit wachstumsfördernden Botenstoffen stimuliert, begannen sie, sogenannte Aussprossungen zu bilden, aus denen später neue Lymphgefässe entstehen.

Automatisierte Zellkultur in 3D

Zur Unterscheidung von herkömmlichen Zellkulturverfahren, die aus einem zweidimensionalen «Zell-Rasen» in einer Zellkulturschale bestehen, nennen die Forscher ihr System mit den Kügelchen ein dreidimensionales System. Darin testeten sie über 1000 chemische Substanzen.

«Es war uns möglich, eine so grosse Zahl von Substanzen zu testen, weil wir den ganzen Prozess automatisieren konnten», erklärt Postdoktorand Martin Schulz, Erstautor der entsprechenden Studie im Fachmagazin «PNAS». Dazu nutzen die Wissenschaftler ein automatisiertes Screening-Mikroskop am Lichtmikroskopie-Zentrum der ETH Zürich. Entstanden sind dabei rund 100‘000 hochauflösende Bilder der beschichteten Mikro-Kügelchen, auf denen sichtbar ist, ob die Zellen Aussprossungen gebildet haben. Die Anzahl dieser Aussprossungen werteten die Wissenschaftler mit einem von ETH-Doktorand Felix Reisen aus der Gruppe von Gisbert Schneider, Professor am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, entwickelten Algorithmus aus. «Würde man die Auswertung von Hand machen wollen, könnte man realistischerweise vielleicht zehn Wirkstoffe testen, aber niemals 1000», sagt Schulz.

System könnte Zahl von Tierversuchen reduzieren

Mithilfe von Substanzen, die dafür bekannt sind, dass sie das Wachstum der Lymphgefässe hemmen, zeigten die Forschenden: Die Ergebnisse ihres 3D-Systems stimmen besser mit solchen aus Tierversuchen überein als die Resultate von herkömmlichen Zellkultur-Testsystemen. «Unser System hat somit eine höhere Vorhersagekraft», sagt Michael Detmar. «Und gegenüber einem Tierversuch hat unser System den Vorteil, dass wir damit direkt die Wirkung in menschlichen Zellen untersuchen können», ergänzt Martin Schulz. Die Wissenschaftler sind überzeugt, dass mit solchen 3D-Systemen in Zukunft vermehrt Tierversuche ersetzt werden können, vor allem wenn es darum geht, grosse Mengen von chemischen Substanzen auf eine pharmakologische Wirkung hin zu testen.

Das sogenannte Screening der über 1000 Substanzen förderte rund 30 Stoffe zutage, die das Lymphgefässwachstum hemmen. Unter mehreren entdeckten Wirkstoffen, von denen diese Wirkung bisher nicht bekannt war, untersuchten die Forscher zwei genauer. Einer der zwei gehört – wie bereits vorweggenommen – der Substanzklasse der Statine an. Die hemmende Wirkung verschiedener Statine bestätigten die Forscher anschliessend in Zusammenarbeit mit Kollegen an der University of California in Berkeley in Versuchen an Mäusen.

Bisher keine geeigneten Medikamente vorhanden

Die Forscher sehen es als möglich an, dass Statine in Zukunft nicht nur bei Herzkreislaufpatienten, sondern auch bei Krebspatienten eingesetzt werden könnten. Wie schon seit einiger Zeit bekannt ist – unter anderem dank Forschung aus der Gruppe von Michael Detmar –, verbreiten sich viele Krebsarten im Körper über die Lymphgefässe. Von einigen Tumoren weiss man, dass sie Stoffe ausschütten, um das Wachstum von Lymphgefässen zum Tumor hin zu fördern. Die Krebsmedizin hat also ein Interesse an Wirkstoffen, die dieses Wachstum hemmen. «Bisher gibt es in der Klinik keine Medikamente, die das zuverlässig bewirken», sagt Detmar.

«Es wäre denkbar, in Zukunft beispielsweise Patienten mit einem stark erhöhten Risiko für Krebserkrankungen mit solchen Medikamenten zu behandeln, um einen sich entwickelnden Tumor an der Bildung von Metastasen zu hindern, bevor man ihn überhaupt entdeckt hat», sagt Detmar. Weil Statine bereits ausgiebig getestet und für eine andere Krankheit zugelassen sind, müssten die Medikamente für einen Einsatz als Hemmstoffe des Lymphgefässwachstums von den Zulassungsbehörden «umgewidmet» werden, was erheblich einfacher wäre als die Zulassung eines neuen Wirkstoffs.

Weniger Tumore nach Statinbehandlung

Dass Statine die Entwicklung und das Fortschreiten von Tumorerkrankungen vermindern könnten, darauf weist auch eine vor wenigen Wochen erschienene Studie aus dem Universitätsspital Zürich hin, an der die ETH-Forscher nicht beteiligt waren. Darin werden Krebserkrankungen von über 100 Patienten untersucht, denen in den letzten 20 Jahren ein Spenderherz eingesetzt worden ist. Jene Patienten, die fortlaufend Statine einnahmen, erkrankten seltener an Krebs und hatten eine bessere Krankheitsprognose als jene, denen keine Statine verabreicht wurden.

Zudem könnten Statine dereinst vielleicht auch nach Organtransplantationen infrage kommen, um Abstossungsreaktionen zu vermindern. Es ist bekannt, dass die Immunzellen, welche eine Organabstossung vermitteln, über Lymphgefässe transportiert werden. Und es gibt Studien, wonach eine Abstossungsreaktion vermindert wird, wenn das Wachstum von Lymphgefässen gehemmt wird. Um zu entscheiden, ob Statine dafür ein taugliches Mittel sind, müsste man laut Detmar allerdings zunächst untersuchen, ob sie in den gewöhnlich verabreichten Dosen Abstossungsreaktionen auch tatsächlich mindern.

Literaturhinweise

Schulz MMP, Reisen F, Zgraggen S, Fischer S, Yuen D, Kang GJ, Chen L, Schneider G, Detmar M: Phenotype-based high-content chemical library screening identifies statins as inhibitors of in vivo lymphangiogenesis. Proceedings of the National Academy of Sciences 2012, Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1073/pnas.1206036109

Fröhlich GM et al.: Statins and the Risk of Cancer After Heart Transplantation. Circulation 2012, 126: 440-447. DOI: 10.1161/circulationaha.111.081059

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