Veröffentlicht: 03.09.13
Science

Computerisierung des Alltags weit fortgeschritten

Am 8. September beginnt an der ETH Zürich die international bedeutendste Konferenz für Ubiquitäres und Pervasives Computing: «Ubicomp 2013». Wie allgegenwärtig diese Sparte der Informations- und Computertechnologie mittlerweile ist, sagt Professor Friedemann Mattern im Interview mit ETH Life. Der Informatiker hat einiges dazu beigetragen, dass Visionen, die vor 20 Jahren formuliert wurden, in der Zwischenzeit Realität geworden sind. So durchdringt Pervasive Computing heute den Alltag, ohne dass man sich dessen in allen Fällen bewusst ist. Ein Ende der Entwicklung hin zu noch mehr elektronischer Hilfestellung ist laut Mattern nicht abzusehen.

Interview: Peter Rüegg
Friedemann Mattern, Professor für Informatik der ETH Zürich: Treibende Kraft hinter dem Pervasive Computing ist der Trend 'kleiner, billiger, schneller'. (Bild: Giulia Marthaler)
Friedemann Mattern, Professor für Informatik der ETH Zürich: Treibende Kraft hinter dem Pervasive Computing ist der Trend 'kleiner, billiger, schneller'. (Bild: Giulia Marthaler) (Grossbild)

ETH Life: Der Begriff «Ubiquitous Computing» entstand vor rund 20 Jahren. Er nährte grosse Hoffnungen, schürte aber auch Ängste vor der totalen Entmündigung. Wo stehen wir heute?
Friedemann Mattern: Das «Ubiquitous Computing» hat von Anfang an stark mit Visionen gearbeitet, die seinerzeit sehr futuristisch anmuteten. Längst nicht alle wurden mittlerweile realisiert. Einiges hat sich aber doch konkretisiert, wie etwa schlaue Assistenzsysteme, die uns heute unter anderem als Apps auf dem Smartphone zur Verfügung stehen. Solche Assistenzsysteme erträumte man sich vor 15, 20 Jahren. Dass dies mit Mobiltelefonen gehen würde, die auf das Internet zugreifen, war seinerzeit allerdings kaum vorstellbar.

Beim Stichwort Ubiquitous Computing gehen Alarmglocken bezüglich des Datenschutzes und «gläserner Mensch» los. Hat sich die Einstellung dazu verändert?
Schon vor 30 Jahren hat man sich grosse Sorgen um Informatisierung und Datenschutz gemacht! Damals ging es vor allem um die Einführung des PCs am Arbeitsplatz und der damit einhergehenden Transformation von Arbeitsprozessen, das ist heute fast vergessen. Was jetzt geschieht, hat natürlich eine andere Dimension erreicht: Die Informationstechnik wird immer schneller, kleiner und billiger. Die Sensorik erzeugt automatisch Daten, Kameras können Dinge oder Gesichter immer besser erkennen. Das wirkt sich viel umfassender auf das tägliche Leben aus.

Inwiefern?
Einerseits ist jetzt auch der private Bereich direkt betroffen und damit die Privatsphäre potentiell gefährdet, andererseits ändern wir unsere Gewohnheiten und unser Verhalten, beispielsweise alleine durch die Tatsache, dass wir Smartphones nutzen: Man macht viel mehr spontan, muss nicht genau planen, man kann dynamisch auf Situationen reagieren. Das wird als normal und positiv angesehen. Damit ändert sich aber auch das, was die Systeme über uns erfahren. Ein erstes Zeichen dafür, dass das Pervasive Computing sozialen Sprengstoff birgt, war vielleicht Google Streetview. Jetzt kommt die nächste Welle auf uns zu.

Wie sieht diese aus, was bringt sie mit sich?
Viele der angesprochenen Assistenzsysteme wollen unser Leben verbessern oder sicherer machen. Damit diese Systeme dem Nutzer massgeschneiderte Informationen geben können, müssen sie aber einiges über ihn wissen oder automatisch in Erfahrung bringen. Ein Beispiel, das an der Konferenz zur Sprache kommt, ist der effiziente Umgang mit Energie. Kennt man detailliert die Energieverbrauchsdaten eines Haushalts, kann man sie automatisch mit den Daten eines anderen, gleichartigen Haushalts vergleichen und analysieren, weshalb der eine so viel mehr Energie braucht als der andere. Wir können dann automatisch gezielte Tipps bekommen, um effektiv Energie zu sparen. So etwas, das sehr positiv tönt, greift natürlich – oft unmerklich – in unsere Privatsphäre ein.

Was, wenn diese Daten in die falschen Hände geraten?
Die Frage, ob Missbrauch möglich ist, stellt sich ernsthaft. Beim Ubiquitären Computing entstehen oft grosse Datenmengen, die zu unserem Nutzen verarbeitet werden. Wenn ein sensorbasiertes System durch Beobachtung lernt, wann ich typischerweise nach Hause komme, um Heizenergie zu sparen, ist das gut. Aber was, wenn ein Einbrecher davon erfährt? Klar ist, dass zukünftige «smarte» Systeme unbedingt sicher und vertrauenswürdig sein müssen. Einige der oft diskutierten Bedrohungsszenarien halte ich allerdings für etwas übertrieben. Macht es einen entscheidenden Unterschied, ob meine Verbrauchsdaten jede Stunde dem Energielieferanten auf einem sicheren Kommunikationskanal mitgeteilt werden oder ob sie einmal im Monat vom Zähler manuell abgelesen werden? Oder dass theoretisch der Nachbar vielleicht meinen «smart meter» per WLAN hacken könnte und so meinen Stromverbrauch erfährt – statt dass er einfach wie bisher in den Keller geht und dort meinen Zähler abliest?

An der Konferenz wird auch die Google-Datenbrille diskutiert. Wie gestaltet sich künftig unser Leben, wenn wir jederzeit damit rechnen müssen, von irgendwem «überwacht» und gefilmt zu werden?
Die Technik der Datenbrille unterscheidet sich interessanterweise nicht wesentlich von der eines Smartphones. Da man die Brille aber immer tragen kann, könnten viele sich gestört fühlen oder zu Recht in ihrer Privatsphäre verletzt sehen. Verbreitet sich die Technik nach einigen Jahren, möchten die Leute eine solche Brille aber möglicherweise nicht mehr missen, weil sie ihnen Sicherheit gibt: Bei einem Notfall kann sich beispielsweise ein Notarzt oder die Polizei in die Brille zuschalten und in Echtzeit mit den Augen des Trägers quasi sehen, was läuft, ohne selbst vor Ort zu sein. Oder ich kann alles aufzeichnen. Bei einem Unfall kann ich dann nachweisen, dass ich unschuldig war, denn ich habe ja den gesamten Ablauf mittels Live-Stream gespeichert. Wenn die Menschen ein solches Instrument, das quasi ihre Sinne erweitert und ihnen Sicherheit gibt, als wertvoll empfinden, wird man es nicht grundsätzlich verbieten können.

Aber was heisst das für die Gesellschaft oder unser Rechtssystem? Man wird unter Umständen für etwas zur Rechenschaft gezogen, was bisher ungesühnt oder nicht beweisbar blieb.
Ja, die Kehrseite ist, dass man eventuell ungewollt auf einem Videostream eines unbekannten Dritten ist. Das ist allerdings etwas anderes als die staatliche Überwachung öffentlicher Räume durch Kameras. Wenn in Zukunft die Brille permanent mit dem Netz verbunden ist, dann kann theoretisch alles, was ich sehe, gespeichert werden. Mit oder ohne Datenbrille – es zeichnet sich generell ab, dass immer mehr Daten über uns und Situationen, die wir durchleben, gespeichert, verarbeitet und genutzt werden können. Das ist zweifellos eine echte Herausforderung für unsere Gesellschaft!

Wenn die Datenbrille aufzeichnet, wie ich während der Fahrt unaufmerksam bin und irgendwo reinkrache, dann ist die Beweislage gegen mich. Ich kann mich nicht mehr durch eine Notlüge herausreden.
Das ist ein wichtiger Punkt. Es gab bisher zumindest implizit auch ein Recht auf Vergessen. Wenn man nun alles automatisch dokumentiert hat und exakt abrufen kann, dann können Dinge nicht mehr in Vergessenheit geraten. Das kann manchmal unmenschlich sein. Ich hoffe, unsere Gesellschaft und das Rechtssystem werden damit gut umgehen können und das Humane gegenüber dem Technokratischen in den Vordergrund stellen! Generell müssen wir uns aber darauf einstellen, dass das Internet zunehmend in die physische Welt hineindrängt. Das hat gewaltige Konsequenzen – positive wie auch potentiell negative.

Pervasives Computing durchdringt schon jetzt vieles. Ist Ihnen die Arbeit noch nicht ausgegangen?
Die Forschung daran hört bestimmt nicht auf! Einerseits, weil die Implementierung der klassischen Visionen viel Detailarbeit erfordert. Andererseits bringt die Forschung selbst wieder neue Visionen auf. Beispiel Datenbrille: Verbindet man diese mit geeigneten Kommunikationsmitteln, kann beispielsweise ein Buschdoktor in einem Dorf in Afrika einen weit entfernten Experten hinzuschalten, damit sich dieser bestimmte Fälle anschaut. Er betrachtet die Patienten also durch die Brille respektive die Augen des Buschdoktors. Ein solches Assistenzsystem zu erforschen, hat enormes Potenzial. Eine andere noch zu erforschende Vision sind «Tele-Autos». In diesem Szenario sitzt der Fahrer nicht mehr im Auto selbst, sondern jemand lenkt den Wagen von einer Zentrale aus anhand von Kameras. Über eine Konsole erhält er «force feedback», das sich anfühlt, wie echtes Fahren. Das ist in technischer Hinsicht kein Science Fiction mehr und könnte für Taxiunternehmen oder Car Sharing interessant werden.

Was wird uns die Ubicomp 2013 zeigen?
Ein grosses Thema ist, Situationen automatisch zu erkennen, ohne dass der Mensch die Technik als lästig empfindet. Für Assistenzsysteme wichtig sind neue Verfahren der Mustererkennung und des automatischen Lernens. Ein «smartes» System muss die typischen Muster eines Menschen erkennen, erlernen und abstrahieren können. Das sind schwierige Aufgaben.

Welche Visionen sind quasi umsetzungsreif?
Man möchte beispielsweise erreichen, dass sich Menschen in Gebäuden wie einem Flughafen oder einem Bahnhof via Smartphone auf den Meter genau lokalisieren können, um kontextbezogene Informationen zu erhalten. Das erfordert ganz neue Techniken. Dieses Thema wird ebenfalls an der Ubicomp-Konferenz vertreten sein. Ein lang gehegter Traum ist auch, verlorene Objekte schnell wiederzufinden. Die Lokalisierung von Objekten ist zwar nichts Neues, denn in der Güterlogistik wird diese Technik schon lange gebraucht, um festzustellen, wo wertvolle Waren sind. Nur waren diese Systeme bisher teuer und gross. Die treibende Kraft beim Pervasive Computing ist aber, dass alles billiger, kleiner und schneller wird. Wenn nun in einigen Jahren ein Lokalisationsgerät nur noch so gross ist wie ein Stück Würfelzucker, für zehn Franken im Supermarkt erhältlich ist, sich überdies eigenständig auf einer Website anmeldet, um auf einer Karte anzuzeigen, wo es sich befindet, dann werden es die Leute vermutlich für alles mögliche benutzen. Man ahnt, welche Herausforderungen mit solchen Entwicklungen auf die Gesellschaft zukommen!

Zur Person

Der 58-jährige Friedemann Mattern ist seit 1999 Professor für Informatik an der ETH Zürich. Im Herbst 2002 gründete er zusammen mit Kollegen das Institut für Pervasive Computing. Er befasst sich mit Modellen und Konzepten für verteilte Systeme, Ubiquitous Computing, Sensor-Netzen und der Infrastruktur für das Internet der Dinge.

UbiComp 2013 an der ETH Zürich

Vom 8. bis 12. September 2013 findet an der ETH die «UbiComp 2013» statt. Sie ist aus der Fusion der wichtigsten Veranstaltungen auf diesem Gebiet, unter anderem der 2002 in Zürich initiierten «Pervasive», hervorgegangen und findet nun zum ersten Mal im neuen Format statt. Parallel dazu wird auch eine Konferenz zum Thema «Wearable Computing» durchgeführt. Eröffnet wird UbiComp 2013 mit einer Rede von ETH-Professor Markus Gross, Direktor Disney Research Zurich.