Veröffentlicht: 28.10.09
Mittwochskolumne

Neanderthal Studies: Was ich den Naturwissenschaften bald zu verdanken hoffe

Philipp Theisohn
Philipp Theisohn, Oberassistent Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft.
Philipp Theisohn, Oberassistent Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft. (Grossbild)

Von jenen Fragen, die man als Literaturwissenschaftler an einer technischen Hochschule relativ häufig gestellt bekommt, ist die gefährlichste vielleicht die oft etwas spöttisch gemeinte Vergewisserung, ob man denn auch an den gewaltigen Entwicklungen und Fortschritten der Kollegenschaft teilhabe. Für gewöhnlich zielt diese Frage auf die zweifellos gegebene ökonomisch-zivilisatorische Relevanz natur- und ingenieurwissenschaftlicher Forschung. Sie suggeriert nicht selten, dass jemand, der eigentlich nur Bücher über Bücher schreibt, nicht allein volkswirtschaftlich schwer zu legitimieren sei, sondern dieser Person auch rundum und schlichtweg der Sinn für die wahren Bedürfnisse seiner Mitmenschen fehle.

Man kann im Angesicht einer solchen Frage natürlich vernünftige Argumente wälzen und zu einer grossen Eloge auf die ganzheitliche Bildung des Menschen ansetzen oder über die Bedeutung der kulturgeschichtlichen Verankerung von Wissenschaft raisonnieren. Nicht verkehrt wäre es sicherlich auch, mit Russell oder Feyerabend auf den grundsätzlich fiktionalen Charakter von Wissenschaftstheorien hinzuweisen und darauf zu hoffen, dass das fragende Gegenüber sich von der Komplexität dieser Ausführungen bereitwillig erschlagen lässt. Mir persönlich ist das meistens zuviel Aufwand. Aus diesem Grunde bin ich mittlerweile dazu übergegangen, den Streit der Fakultäten galant zu vermeiden, indem ich mich einfach möglichst informiert zeige, entweder eine Art «Best Of» meiner rudimentären Kenntnisse über das CERN zum Besten gebe oder wild auf neueste Artikel aus Nature (wahlweise aus der c’t) verweise, die ich dann aus dem Stegreif fingiere. Auch eine gute Übung!

Im Ernst: ein Ignorant in Sachen Laborforschung will ich nicht sein, und ich pflege ja tatsächlich auch meine heimlichen Passionen. Eine davon gehört der noch gar nicht so alten Disziplin der Kryptozoologie. Was für eine herrliche Welt! Alles Vieh, was das Pech hatte, den Menschen nicht mehr kennenzulernen oder von ihm restlos aufgefressen zu werden, wird aus seinen morschen Knochen wieder auferstehen: ein wahrhaft messianisches und nahezu biblisch zu imaginierendes Szenario. Man muss das einfach wahrhaben wollen! Auch wenn der Kollege Marquardt von der anderen Seite des Schreibtischs jedes Mal entgeistert «Was ist denn jetzt bitte das schon wieder?» herübermurrt, sobald mir der Kommentator aus der BBC-Dokumentation «Monsters we met» mit raunender Stimme den zwar nicht von Menschen gefressenen, sondern vielmehr Menschen fressenden, dennoch aber vor 600 Jahren ausgestorbenen «Haast Eagle»(Harpagornis moorei) ankündigt.

Verantwortet wird meine Leidenschaft für die Kryptozoologie zum einen sicherlich von einem diffusen schlechten Gewissen gegenüber der Tierheit dieses Planeten, zum anderen von einer Sehnsucht nach der Biologie als dem humanistischen Fach, das sie früher einmal gewesen ist und in dem es vor allem um das Sammeln und Klassifizieren ausgefallener Arten ging. Dahin diese glorreichen Zeiten – aber auch sie werden bald wiederkommen, wie die Mammuts, über deren Wiederansiedlung in Sibirien bereits intensiv von Seiten der Kryptozoologen nachgedacht wird.

Das wäre natürlich eine sensationelle Geschichte – auf den ersten Blick. Denn auf der anderen Seite: was ist ein Mammut schon? Ein Elefant mit Haaren. Nun ja, das verändert unsere Sicht auf die Welt sicherlich kaum. Gedanklich viel anregender erschien mir hingegen ein Bericht der New York Times im vergangenen Februar, in dem es um die wohl demnächst bevorstehende Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms ging. Glaubt man George Church, einem Neandertaler-Spezialisten aus Harvard, dann wird man schon bald Neandertaler fabrikmässig herstellen können (zum Stückpreis von 30 Millionen Dollar).

Natürlich werden sich in diesem Moment garantiert alle Wissenschaftsethiker zu Wort melden, die wissen wollen, was man denn bitteschön im 21. Jahrhundert mit Neandertalern anfangen solle. Der Herausgeber der Zeitschrift Reason, Ronald Bailey, hat für die Bedenkenträger eine superbe Antwort parat, die ich mir gern zueigen mache: der Neandertaler sei ja seltsamerweise genau zu jener Zeit ausgestorben, als der Homo sapiens begann, seine Territorien zu bevölkern. Es sieht also ganz danach aus, dass unsere Vorfahren die ungeliebten Verwandten ausgelöscht haben. Daraus erwächst uns sozusagen die moralische Pflicht, die Neandertaler wieder ins Dasein zurückzurufen, um die von unserer Spezies einst verübte Untat wieder gutzumachen.

Um ehrlich zu sein: mir ist es vollkommen egal, welche Folgeprobleme dieses Projekt aufwirft. Natürlich gäbe es viele Fragen zu beantworten. Die Neandertaler bräuchten einen Lebensraum, der ihren Bedürfnissen entgegenkommt (mein Nachbar hat mir bereits Basel vorgeschlagen, aber darauf gehe ich hier nicht ein). Sie besassen allem Anschein nach bereits eigene Riten und Kultstätten, über die müsste man dann auch erst einmal abstimmen lassen. Ferner sind die Neandertaler wohl bereits sesshaft gewesen, als unsereiner noch durch die Steppen nomadisierte: in Zeiten, in denen Flexibilität ein hohes Gut ist, wäre das natürlich ein schwer zu kompensierender Nachteil auf dem Arbeitsmarkt. Vermutlich müsste man gezielte Förderprogramme einrichten, welche die spezifischen (nämlich v.a. physischen) Stärken der Neandertaler sowie die Eigenheiten ihrer Kultur berücksichtigen.

Aber dennoch: Ich will, dass dieses Projekt «Neandertal 2010» mit aller Macht vorangetrieben wird – und zwar allein aus dem Grund, weil es einfach ein guter Stoff ist. Sobald wir erst einmal eine Erdpopulation von, sagen wir mal, 2 Millionen Neandertalern haben, wären die Geistes- und Sozialwissenschaften für die nächsten hundert Jahre mit Forschungsthemen versorgt. Ich denke da nicht nur an das Naheliegende wie die «Neanderthal Studies» (vermutlich in Berkeley aus der Taufe gehoben). Nein, vieles mehr stünde auf dem akademischen Spielplan: die politische Organisation der Neandertaler, ihr Verhältnis zur Konkordanz und ihr Wahlverhalten; die Repräsentation von Neandertalern in den Medien («The Flintstones», «Ice Age» etc.); der Bärenkult im Lichte der Säkularisierung; eine alternative Geschichtstheorie («Prähistorismus»); Höhlensemantik; Ethiken des Jagens (sofern das Mammut bis dahin eben auch bereits wieder da ist) usw. usf.

Und niemand, niemand wird jemals wieder auf den Gedanken kommen, mich zu fragen, was man mit meinen Kenntnissen eigentlich anfangen kann. Nächstes Jahr geht’s los!

Zum Autor

Philipp Theisohn, 35 Jahre alt, ist Oberassistent an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft. Zwischen seiner Zürcher Studienzeit und seiner glücklichen Rückkehr im August 2008 liegen ein Magisterabschluss und eine Promotion in Tübingen sowie eine spannende Zeit als Visiting Research Fellow an der Hebrew University of Jerusalem. Geforscht hat er unter anderem über den Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler, Franz Kafka, über frühneuzeitliche Literatur und den Zionismus als literarische Grösse. Vor kurzem erschien seine «Literaturgeschichte des Plagiats»; im Augenblick gilt sein Interesse aber ganz dem Themenfeld «Literatur als Orakel». Abseits des akademischen Betriebes trauert Philipp Theisohn seiner verschluderten Karriere als Schlagzeuger nach und kompensiert dies durch gezieltes Herumstreunen in diversen Zürcher Plattenläden. Nicht selten trifft man ihn auch beim «Käfele» mit Kolleginnen und Kollegen. Seine lektürefreien Minuten verbringt er aber am liebsten mit seiner Frau und seiner Tochter, gerne im Zoo oder in der Badi. Ach ja: Seit neuestem hat er das Velo als Hauptfortbewegungsmittel für sich wieder entdeckt.

 
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