Veröffentlicht: 27.03.13
Science

Die Zähmung des egoistischen Menschen

Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie spricht vom Homo oeconomicus, einem grundsätzlich egoistischen Menschen, der nur zu seinem eigenen Nutzen kooperiert. Der Realität wird diese Theorie nur bedingt gerecht. Zwei Arbeiten von Forschern der ETH Zürich liefern nun neue Erklärungsansätze, wie kooperatives Verhalten entstehen und sich durchsetzen konnte.

Fabio Bergamin
ETH-Forschende gingen der Entstehung sozialen und kooperativen Verhaltens auf den Grund (Symbolbild). (Bild: Colourbox)
ETH-Forschende gingen der Entstehung sozialen und kooperativen Verhaltens auf den Grund (Symbolbild). (Bild: Colourbox) (Grossbild)

Sind wir alle Homines oeconomici, rational denkende und eigennützig handelnde Menschen? Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie ist lange von diesem Konzept ausgegangen. Demnach würden wir als Konsumenten nur das Ziel verfolgen, für jeden ausgegebenen Franken einen maximalen Nutzen zu erhalten. Und als Verkäufer hätten wir keine andere Motivation als die Maximierung des Profits. Heute sind viele Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen überzeugt, dass das vereinfachende Konzept des Homo oeconomicus der komplexen Realität der menschlichen Interaktionen nicht gerecht wird. Denn ganz offensichtlich verhalten sich nicht alle Menschen egoistisch. Die meisten von uns sind kooperativ – nicht nur aus Eigennutz –, haben ein Verständnis von Fairness oder gar eine soziale Ader.

Doch wie konnte dieses kooperative, «faire» Verhalten in der Menschheitsgeschichte entstehen? Wie konnten sich Menschen, die auch zulasten des eigenen Vorteils auf andere Rücksicht nehmen, gegen Menschen durchsetzen, die nur an den eigenen Vorteil denken? Viele Theorien versuchen dies mit Altruismus, selbstlosem Handeln, zu erklären. Diese Theorien gehen in der Regel davon aus, dass Menschen nicht nur gegenüber Verwandten selbstlos handeln, sondern auch gegenüber wildfremden Menschen, die sie zum ersten Mal sehen. Die gute Behandlung von Verwandten ist evolutiv einfach zu erklären, denn Verwandte haben ähnliche Erbanlagen. Wenn wir sie unterstützen, tragen wir indirekt zur Weitergabe der eigenen Gene bei. Selbstloses Verhalten gegenüber Fremden ist hingegen evolutiv schwierig nachzuvollziehen.

Zwei Modelle, die ETH-Wissenschaftler in diesen Tagen unabhängig voneinander veröffentlicht haben, bieten nun neue Erklärungsansätze für kooperatives Verhalten – auch gegenüber Fremden. Das eine Modell der Gruppe von Dirk Helbing, Professor für Soziologie, liefert eine neue Erklärung, wie sich kooperative, «faire» Menschen während der Evolution durchsetzen konnten. Ein anderes Modell von Andreas Diekmann, ebenfalls Professor für Soziologie, zeigt, dass Kooperation zwischen fremden Menschen nicht zwingenderweise auf Altruismus beruhen muss, sofern sich Freiwillige finden, die nicht-kooperatives Verhalten bestrafen.

«Homo socialis»

Helbing und seine Kollegen simulierten das Verhalten einer Gruppe von einigen hundert Menschen – im Modell Agenten genannt – während 200 Generationen mit einem spieltheoretischen Evolutionsmodell am Computer. Das in der Fachzeitschrift «Scientific Reports» veröffentlichte Modell berücksichtigt nicht nur den – unter anderem wirtschaftlichen – Erfolg der Agenten, sondern auch ihre «Freundlichkeit» und ihr Kooperationsverhalten. Auch beinhaltet es, dass soziale Werte unter bestimmten Voraussetzungen über Generationen hinweg weitergegeben werden, aber auch spontan entstehen und variieren können.

Die Wissenschaftler begannen die Simulation mit ausschliesslich egoistischen Agenten, die dem Homo oeconomicus entsprechen. Nach der Simulation von rund 60 Generationen kippte das Modellsystem von einem eigennützigen in einen sozialen Zustand: Die Mehrheit der Agenten zogen ab diesem Punkt Vor- oder Nachteile des Gegenübers in ihren Entscheidungen in Betracht – es entwickelte sich ein «Homo socialis».

Helbing und seinen Kollegen gelang es auch, die Umstände zu ermitteln, unter welchen sich das soziale Verhalten in der modellierten Menschheitsgeschichte durchsetzen und verbreiten konnte, nämlich wenn die Nachfahren tendenziell nahe bei ihren Eltern bleiben. Auf diese Weise können Clans oder Dorfgemeinschaften von Individuen mit ähnlichem Freundlichkeitsniveau entstehen. Die in solchen Gemeinschaften lebenden Agenten hatten in einem frühen Stadium der Simulation eine Präferenz für Freundlichkeit, sie verhielten sich jedoch zunächst nur bedingt kooperativ. Zufällig in solche Gemeinschaften hineingeborene, «bedingungslos kooperierende» Agenten vermochten das Verhalten der Clanmitglieder in Richtung Kooperation zu beeinflussen. Über einen Dominoeffekt konnte sich der «Homo socialis» letztlich durchsetzen, wie die Simulation zeigte.

Trittbrettfahrer bestrafen

Einen anderen Erklärungsansatz veröffentlichte Andreas Diekmann gemeinsam mit seinem Kollegen Wojtek Przepiorka von der Universität Oxford in der Fachzeitschrift «Proceedings of the Royal Society B». Die Wissenschaftler liefern eine mögliche Erklärung für Kooperation zwischen fremden Personen, die sich zum ersten Mal begegnen – eine Erklärung, die ohne das Konzept des Altruismus, des selbstlosen Handelns, auskommt. Die Forscher stellen nicht in Abrede, dass es Menschen gibt, die Rücksicht nehmen auf Fremde. Doch sei es ihnen ein Anliegen gewesen, eine Erklärung für Kooperation zu präsentieren, die ohne dieses Konzept auskomme, sagt Diekmann.

Es ist bekannt, dass Kooperation entstehen kann, wenn nicht-kooperative Trittbrettfahrer in einer Gemeinschaft bestraft werden. «Voraussetzung dafür ist aber, dass sich Freiwillige finden, die diese Trittbrettfahrer im Eigeninteresse bestrafen», erklärt Diekmann. Das Problem ist als Freiwilligendilemma bekannt: Jemand, der einen anderen bestraft, hat oft negative Folgen zu gewärtigen. Niemand prescht gerne vor, wenn es darum geht, einen Trittbrettfahrer zu bestrafen oder – als konkretes Beispiel – jemanden, der im Zug zu laut Musik hört, um Ruhe zu bitten. Die Frage ist also, ob jemand aktiv wird, statt auf das Eingreifen der anderen zu warten.

Asymmetrie steigert Kooperationsniveau

In einem spieltheoretischen Experiment mit 120 Versuchspersonen haben Diekmann und Przepiorka das Freiwilligendilemma auf das Kooperations- und Sanktionsproblem angewandt. Dabei untersuchten sie, wie die Versuchsteilnehmer in einem Spiel um Spielgeld mit einem betrügenden Mitspieler umgingen. Das Experiment bestätigte, dass kooperatives Verhalten in einer Gruppe entstehen kann, solange es eine Person gibt, die straft.

Ausserdem zeigte das Experiment, dass die Kooperation in einer Gruppe grösser ist, wenn die Mitglieder eine sichtlich unterschiedliche Bereitschaft haben, Trittbrettfahrer zu bestrafen. Die Verantwortung zur Sanktion wird dann nicht gleichmässig auf die Gruppenmitglieder verteilt, sondern konzentriert sich in der Regel auf die Person, die aus der Bestrafung den grössten Nutzen zieht oder für die die Bestrafung mit den geringsten negativen Folgen verbunden ist. Wenn beispielsweise eine Reisegruppe im Zug von Herrn Meier weiss, dass er sich besonders stark an lauter Musik stört, werden alle Gruppenmitglieder darauf warten, dass Herr Meier einen Störenfried sanktioniert. «Von dieser Person wird erwartet, dass sie für alle die Kohlen aus dem Feuer holt», sagt Diekmann. So führe die Ungleichheit der Mitglieder zu einer effizienten Sanktionierung und gleichzeitig zu einem hohen Kooperationsniveau.

Literaturhinweis

Grund T, Waloszek C, Helbing D: How Natural Selection Can Create Both Self- and Other-Regarding Preferences, and Networked Minds, Scientific Reports, 2013, 8: 1480, doi: 10.1038/srep01480

Przepiorka W, Diekmann A: Individual heterogeneity and costly punishment: a volunteers’s dilemma. Proceedings of the Royal Society B, 2013, doi: 10.1098/rspb.2013.0247