Veröffentlicht: 02.10.13
Kolumne

Migrationen der Kombinatorik

Andreas Kilcher
Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft (Bild: ETH Zürich)
Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Die Kombinatorik als eine mathematische Disziplin hier vorzustellen, hiesse Eulen nach Athen zu tragen. Hinlänglich bekannt ist sie als die Berechnung möglicher Auswahlen und Anordnungen von Elementen. Bekannt sind auch die teils spektakulären Beispiele, die das Phänomen der kombinatorischen Explosion auch im Alltag zeigen, etwa das Lottospiel, eine Kombination ohne Wiederholung mit der berühmten Wahrscheinlichkeit von 1:13'983'816 Möglichkeiten für einen Sechser im Lotto aus 49 Kugeln.

Schlüssel zur Welt

Schon diese spielerische Anwendung verweist auf das, was ich hier aufzeigen will: die Migration des Prinzips Kombinatorik. Gehen wir dazu ins Barock-Zeitalter zurück, das von der Idee der Kombination ganz und gar erfüllt war. Denker wie Pascal oder Leibniz (der 1666 über die ars combinatoria promovierte) erhoben die Kombinatorik zu einem universalen Phänomen, ja sogar zum Schlüssel für das Weltverständnis. Sie leitet die Ding-Ordnung der Natur, die - als machina mundi – nach Mass und Zahl geordnet ist. Und sie leitete die Ordnung des Denkens und der Sprache, was Leibniz zur Suche nach dem Alphabet des menschlichen Denkens – einer characteristica universalis – brachte. Athanasius Kircher wiederum erklärte in seiner Ars magna sciendi sive combinatorica (1669) mit der Kombinatorik schlicht alle Phänomene. Die Welt ist ein mundus combinatus: Wie in der Mathematik Zahlen und in der Sprache Worte und Buchstaben kombiniert werden, so in der Natur die Elemente. Naturwissenschaftler – Chemiker wie Alchemisten – und Sprachwissenschaftler adaptierten daraufhin das Verfahren der Kombination.

So wurde die Kombinatorik auch zum Verfahren der Dichtung. Philologen wie Daniel Schwendter und Georg-Philipp Harsdörffer legten einen «Denkring der Teutschen Sprache» vor, der via Kombination alle möglichen Worte der deutschen Sprache erzeugen sollte. Dem folgten gelehrte Dichter wie Quirinus Kuhlman mit seiner emphatischen «Sprachkunst»: «Komm herbei! O Sprachkunst! mit deinem Buchstabenheere! Ist deine Aneinanderfügung nicht alleine ein eintziges Wechselrad?» Kuhlmann setzte dies 1671 in einem experimentellen Gedicht um, dem «Wechsel-Kuss», für dessen Erzeugung er 622 Millionen Mög­lich­keiten errechnete. Zur Rationalisierung der Kombination konstruierte Kuhlmann zudem einen Apparat aus drehbaren Alphabet-Scheiben, «ein Wechselrad, durch das mein Reim, der in einem Jahr­hundert nie ausgewechselt, innert etlicher Tage völlig ausgewechselt» werden kann. Dichtung wurde zu einem kybernetisch rationalisierbaren sprachlogischen Verfahren, das aus der mathematisierbaren Fülle, dem pleroma eines mundus combinatus, schöpft.

Das Kalkül der Avantgarde

Die literarische Avantgarde des 20. Jahrhunderts griff diese Faszination für die Kombinatorik auf; doch suchte sie darin nicht die Fülle des Sinns, sondern liess ihn vielmehr – scheinbar paradox – in der kombinatorischen Explosion implodieren. Raymond Queneau etwa ist zu nennen, Mitbegründer des Gruppe Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle; «Werkstatt für Potentielle Literatur»), die es sich zum Programm machte, nach mathematischen Kalkülen zu dichten. Beispielhaft waren seine Cent Mille Milliards de Poèmes («Hunderttausend Milliarden Gedichte», 1961), nach Queneaus Oulipo-Kollege Italo Calvino kein Buch, sondern eine «infernalische Maschine». Es besteht aus 14 Zeilen à 10 Varianten, was 1014 Möglichkeiten ergibt. In der «Gebrauchsanweisung» rechnet Queneau vor: «Wenn man 45 Sekunden zum Lesen eines Sonettes und 15 Sekunden zum Umblättern der Lamellen rechnet, 8 Stunden pro Tag, 200 Tage pro Jahr, hat man für mehr als eine Million Jahrtausende zu lesen.»

Die kombinatorische Dichtung vollzog so auch den Übergang zur Kybernetik. Italo Calvino erklärte in Kybernetik und Gespenster (1967) den Schriftsteller zu einer «schreibenden Maschine», die «den impliziten Möglichkeiten des eigenen Materials» dadurch folgt, dass sie in «manischer Obsession» «alle möglichen Permutationen bildet». Im Turing-Zeitalter konnte die ars combinatoria ein neues enzyklopädisch-kybernetisches Schreiben begründen, das in einem «Kombinationsprozess vorhandener Elemente» besteht, dabei aber gegenüber vorherrschenden Normen eine «Desorientierung» bedeutet. Daher gilt: «Die Maschine wird Avantgarde herstellen», was nichts anderes heisst als: die Explosion der Kombinationsmöglichkeiten lässt den Sinn der dichterischen Rede implodieren. - Und just dies ist das Kalkül der Avantgarde.

Zur Person

Andreas Kilcher ist seit 2008 ordentlicher Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Geboren wurde er 1963 in Basel. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Basel und München, forschte an der Hebrew University in Jerusalem und war Assistent an den Universitäten Basel und Münster. Er habilitierte sich im Jahr 2002. Von 2004 bis 2008 war Andreas Kilcher ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, sodann literatur- und kulturwissenschaftliche Wissensforschung im allgemeinen, dabei auch die Erforschung dessen, was als «Esoterik» oder «okkultes Wissen» verstanden werden konnte. Leidenschaften? Ja, unzeitgemässe wie Lesen und Schreiben. Seine Zeit neben der wissenschaftlichen Arbeit gehört der Familie mit vier Kindern - ein Kosmos für sich.