Veröffentlicht: 14.08.13
Science

Wettrüsten mit beidseitigem Nutzen

Meistens denkt man bei Mutationen an etwas Schlechtes wie Erbkrankheiten. Aber Mutationen bedeuten auch genetische Vielfalt und sind Grundlage der Evolution. Forscher haben ein ausgeklügeltes System entdeckt, das eine Pflanze vor schädlichen Mutationen schützt, aber auch die genetische Vielfalt ihrer Nachkommen sicherstellt.

Angelika Jacobs
Querschnitt durch Pflanzengewebe mit Färbung der Evadé RNA (dunkelblau), welche zeigt, dass Evadé sich nur in einem bestimmten Zelltyp vermehrt. (Bild: Arturo Marí-Ordóñez / ETH Zürich)
Querschnitt durch Pflanzengewebe mit Färbung der Evadé RNA (dunkelblau), welche zeigt, dass Evadé sich nur in einem bestimmten Zelltyp vermehrt. (Bild: Arturo Marí-Ordóñez / ETH Zürich) (Grossbild)

Grosse Teile des Genoms - von Pflanzen bis hin zu Tieren und Menschen – bestehen aus uralter Virus-DNA, die einst dazu imstande war, sich selbst zu vervielfältigen und die Kopien an andere Stellen im Genom einzupflanzen. Da diese sogenannten Retrotransposons sich dabei in ein lebenswichtiges Gen hineinsetzen und es dadurch unterbrechen können, haben Organismen Wege gefunden, diese Stücke fremder DNA an ihrem Aufenthaltsort im Genom festzusetzen. Nur unter besonderen Umständen können Retrotransposons «ausbrechen», beispielsweise unter Stressbedingungen.

Olivier Voinnet, Professor für RNA-Biologie, und sein Doktorand Arturo Marí-Ordóñez haben ein erstaunlich ausgeklügeltes System entdeckt, welches die Vervielfältigung und das Festsetzen eines Retrotransposons in der Pflanze Arabidopsis thaliana in Balance hält. Die spezielle Beziehung zwischen der Pflanze und dem Retrotransposon hat mehrere Aspekte: Indem die Pflanze dem Retrotransposon gestattet, sich zu einem gewissen Grad zu vermehren, hilft dieses, den Nachwuchs der Pflanze genetisch vielfältiger zu machen. Gleichzeitig hat die Pflanze einen Sicherheitsmechanismus entwickelt. Dieser verhindert, dass sich das Retrotransposon zu stark vermehrt.

Vielfältiger Nachwuchs

Die Forscher entdeckten, dass das Retrotransposon, genannt Evadé (französisch «Ausbrecher»), sich in der Pflanze nur in einem ganz bestimmten Zelltyp vervielfältigt, demjenigen nämlich, den die Pflanze benutzt, um Eizellen und - nach der Befruchtung - Samen und somit Nachkommen zu produzieren. Indem Evadé sich nur in einem einzigen Zelltyp vermehrt, vermeidet es, der Wirtspflanze Schaden zuzufügen: Der «Copy/Paste»-Mechanismus, den es braucht, um sich als Kopien seiner selbst an andere Stellen ins Pflanzengenom einzufügen, könnte Gene unterbrechen und somit die Gesundheit der Pflanze aufs Spiel setzen.

Dennoch hat Evadé die Möglichkeit, sich zu vermehren, und indem es dies im weiblichen Zellgewebe tut, das die Eizellen hervorbringt, macht es den Nachwuchs der Pflanze genetisch vielfältiger. Dadurch entstehen neue Versionen der Pflanze, die besser an die gegebenen Umweltbedingungen angepasst sein können. Eizellen aber, welche ein durch Evadé unterbrochenes wichtiges Gen tragen, werden nicht befruchtet und sterben ab.

Ein Wettrüsten

In diesem Zusammenhang fanden Voinnet, Marí-Ordóñez und ihre Kollegen heraus, dass die Beziehung zwischen der Pflanze und Evadé ein Wettrüsten ist, und zwar eines, das die Pflanze letztendlich gewinnt: Das Retrotransposon benutzt einen Trick, um dem ersten Angriff der Pflanze gegen seine Vervielfältigung zu entgehen. Dem zweiten Gegenschlag der Pflanze fällt es jedoch zum Opfer, was die Anzahl Evadé-Kopien auf etwa 40 beschränkt. Beide Angriffswellen der Pflanze benutzen ein Zwischenprodukt aus Evadés eigenem «Copy/Paste»-Prozess: Das «Kopieren» erfolgt durch Übersetzen der Evadé-DNA in RNA, das «Einfügen» durch eine Rück-Transkription von RNA zu DNA, die gleichzeitig an eine beliebige Stelle im Pflanzengenom eingefügt wird.

Für ihre erste Angriffswelle nutzt die Pflanze einige Kopien der Evadé-RNA, um Zielsuchvorrichtungen zu bauen: Eine bestimmte Art sehr kurzer RNA-Moleküle, die perfekt komplementär zu Evadés RNA passen. Diese Zielsuchvorrichtungen lenken eine Art molekularer Schere zu Evadés RNA, so dass diese in harmlose Stücke zerschnitten wird und nicht mehr für die Rück-Transkription und das «Einfügen» zur Verfügung stehen würde. Evadé entkommt jedoch dieser Attacke, indem es seine RNA mit einem Schutzmantel aus kleinen Proteinen vor dem Zerschneiden schützt. Somit binden die molekularen Scheren Evadés RNA zwar, die RNA wird jedoch nicht zerschnitten und kann weiterhin rücktranskribiert und ins Genom eingefügt werden.

Da Evadé dem ersten Gegenschlag der Pflanze entkommt, sich vermehrt und daher immer mehr Kopien von seiner DNA zu RNA übersetzt werden, kommt ein Punkt, an dem mehr Kopien der Retrotransposon-RNA vorhanden sind als molekulare Scheren. Diese Absättigung der Scheren-Moleküle führt zum zweiten Gegenschlag der Pflanze, dem Evadé nicht mehr entkommen kann: Die Pflanzenzellen beginnen eine neue Art Zielsuchapparate aus Evadés RNA zu bauen. Diese leiten nicht mehr molekulare Scheren, sondern einen Komplex aus Proteinen. Sie führen diesen zu allen Kopien von Evadés DNA, die im Pflanzengenom integriert sind. Dort verändern die Proteine die Evadé-DNA chemisch, so dass sie nicht mehr in RNA übersetzt werden kann. Da somit der «Copy/Paste»-Prozess im Keim erstickt wird, verhindert die Pflanze, dass sich Evadé weiter vermehrt.

Ein vielschichtiges Rätsel

Um die wechselseitige Beziehung zwischen Arabidopsis und Evadé zu erforschen, benutzten Voinnet und Marí-Ordóñez einen genetischen Trick, um das schlafende Retrotransposon zu wecken: Sie entfernten spezifisch die chemischen Modifikationen an Evadés DNA, welche die Übersetzung zu RNA verhinderten. «Es war erstaunlich zu sehen, dass Evadé wieder komplett festgesetzt wird, genau 14 Pflanzengenerationen nachdem wir es freigelassen hatten», sagt Voinnet. «Das ist der Punkt, an dem so viele Kopien von Evadé vorhanden sind, dass die Reaktion der Pflanze von der ersten zur zweiten Angriffs-Strategie umschwenkt.

Die komplexe Beziehung zwischen Arabidopsis und dem Retrotransposon zu ergründen, war laut den Forschern ein vielschichtiges Rätsel. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden kürzlich in Nature Genetics publiziert. «Eine solche Studie wurde in der Form noch nie durchgeführt, weder in Pflanzen noch in anderen Organismen», betont Voinnet. Zum ersten Mal konnten die Forscher experimentell rekonstruieren und analysieren, wie ein Retrotransposon «erwacht», sich vermehrt und schliesslich stillgelegt wird.

Literaturhinweis

Marí-Ordóñez A, Marchais A, Etcheverry M, Martin A, Colot V, Voinnet O. Reconstructing de novo silencing of an active plant retrotransposon. Nature Genetics, 2013, Online-Vorabveröffentlichung, doi: 10.1038/ng.2703

 
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