Veröffentlicht: 14.01.11
Science

Riesenmolekül synthetisiert

Moleküle herzustellen, die es an Grösse, Gestalt und Struktur mit grossen Biomolekülen aufnehmen können, ist ein alter Traum organischer Chemiker. Einem internationalen Forscherteam um A. Dieter Schlüter vom Department für Materialwissenschaft der ETH Zürich gelang es nun, das bislang grösste Makromolekül zu synthetisieren.

Catarina Pietschmann
Atomkraftmikroskopaufnahme des Riesenmoleküls, das hier per Zufall ein Tabakmosaikvirus «umarmt», dem es in Ausmass und Form ähnelt. (Bild: zVg)
Atomkraftmikroskopaufnahme des Riesenmoleküls, das hier per Zufall ein Tabakmosaikvirus «umarmt», dem es in Ausmass und Form ähnelt. (Bild: zVg) (Grossbild)

Schier endlos lange Molekülketten durch chemische Verknüpfung von kleinen Molekülen herzustellen ist einfach. Aber was in der Natur Routine ist – formstabile Stäbchen, Kugeln, Fibrillen, Membranen und andere definierte räumliche Strukturen herzustellen, was selbst jeder simple Virus beherrscht – stellte die Wissenschaft bisher vor unlösbare Probleme. Denn Länge allein ergibt noch keine dreidimensionale Form. Eine Herausforderung für Polymerchemiker Dieter Schlüter. «Um ein dickes Polymer herzustellen, kann man nicht einfach Monomere mit riesigen Verzweigungseinheiten versehen und verknüpfen.» Die räumliche (sogenannt sterische) Hinderung wäre zu gross.

Die Lösung ist ein Vorgehen, das angelehnt ist an einen natürlichen Prozess: das Baumwachstum. Für das Basispolymer (PG1) – sozusagen den Stamm – werden Monomere, die nur sehr kleine Verzweigungen tragen, linear verknüpft. Ausgangsmaterial dafür ist ein Methylmethacrylat. Das so entstandene Polymerrückgrat besteht im Mittel aus 10‘600 Wiederholungseinheiten, wovon jede zwei terminale Amine trägt, damit insgesamt 21‘200. Diese Amine sind quasi die Sprosse, an denen für die weitere Verzweigung jeweils identische Verzweigungseinheiten (Dendrone) aufgesetzt werden. Nach vier «Wachstumsphasen» sind spaghettiförmige Objekte entstanden, mit einer Molekülmasse von 200 Millionen Dalton und einem Durchmesser von zehn Nanometer.

Synthese mit molekularer Präzision

Form und Dicke der dendronisierten Polymere sind Konsequenz des stufenförmigen Aufbaus. Denn mit jedem Reaktionsschritt verzweigen sich die unzähligen Äste mehr. Dementsprechend muss sich aber auch die Zahl der parallel ablaufenden chemischen Verknüpfungsreaktionen mit jedem Schritt verdoppeln. Und so finden in der vierten Wachstumsphase bereits 170‘000 Amidisierungen statt – gleichzeitig an einem einzigen Molekül.

Damit keine Defekte entstehen, müssen die Verknüpfungsreaktionen möglichst vollständig ablaufen, also annähernd an jeder der 10‘600 Wiederholungseinheiten des Polymers. Sonst entstehen Schwachstellen, die nicht tolerierbar sind. «Das wäre wie ein Wiener Würstchen, das in der Mitte eine Kerbe hat», vergleicht Schlüter. «An dieser Stelle würde sich das Polymer leicht biegen. Dadurch ändern sich die mechanischen Eigenschaften.»

Doch der Aufbau gelang mit hoher Präzision. Durch geeignete Wahl der Reaktionsbedingungen konnte Postdoktorand Baozhong Zhang einen Umsatz von 94,3 Prozent über alle Teilschritte (vom Basispolymer PG1 bis zu PG5) erzielen.

Verwendung in Technik und Medizin

Konkret anwenden liesse sich PG5 beispielsweise als Ventil für molekulare Maschinen. «Lädt man die terminalen Amine der dicken Polymerkette positiv oder negativ auf, kontrahiert die Kette bei zunehmender Salzkonzentration des umgebenden Mediums. Und bei abnehmender elongiert sie wieder», erzählt Schlüter. In der Medizin liessen sich die Nanoobjekte als Drug Release Systeme einsetzen. Denn an jenen 170‘000 terminalen Aminogruppen, die dicht an dicht wie Blatt- und Blütenknospen an den feinen Polymer-Ästchen sitzen, können Wirkstoffe leicht kovalent oder durch supramolekulare Kräfte gebunden werden.

Aber auch für sonstige Modifikationen ist PG5 eine ergiebige Spielwiese, denn an den «Knospen» lässt sich fast beliebig Chemie betreiben. Schlüter interessiert derzeit besonders eines: «In allen Lehrbüchern steht, dass die Eigenschaften eines Polymers von Kettenlänge und Kettenlängenverteilung abhängen. ‹Dicke› Ketten gab es bislang nicht. Wir wollen wissen, ob die Dicke Einfluss zum Beispiel auf Steifheit und Elastizität des Materials hat.» Das wird derzeit zusammen mit Genfer Kollegen untersucht. Als nächstes will Schlüters Team austesten, wie weit sich das Spiel mit der Verzweigung von dendronisierten Polymeren treiben lässt. «Gelingt uns ein PG6? Ein PG7? Wo liegt das Limit?»

Literaturhinweis

Zhang B, Wepf R, Fischer K, Schmidt M, Besse S, Lindner P, King BT, Sigel R, Schurtenberger P, Talmon Y, Ding Y, Kröger M, Halperin A & Schlüter AD. The Largest Synthetic Structure with Molecular Precision: Towards a Molecular Object. Angewandte Chemie 17. Januar 2011; Vol. 123: 763-766. doi:10.1002/ange.201005164