Konsistenz von Gewebe messen
Mit einem an der ETH Zürich entwickelten biomechanischen Messgerät ist es erstmals möglich, im lebenden Körper lokal Konsistenzveränderungen von Gewebe zu erfassen. Wissenschaftler möchten damit neue Diagnosetechniken entwickeln, beispielsweise um Komplikationen in der Schwangerschaft früh zu erkennen.
Gynäkologinnen und Chirurgen brauchen ihren Tastsinn, um die Beschaffenheit von Organen ihrer Patientinnen und Patienten zu prüfen. Gynäkologinnen beispielsweise ertasten bei Routineuntersuchungen von schwangeren Frauen mit ihrer Hand den Gebärmutterhals. Ist die Beschaffenheit auffällig, kann dies ein Anzeichen für bevorstehende Schwangerschaftskomplikationen sein. Ein anderes Beispiel des Ertastens in der Medizin – im Fachjargon Palpation genannt: Ein Chirurg verwendet während der Operation oft seine Finger, etwa um die Grösse eines Tumors zu bestimmen, der entfernt werden muss.
Ein von Forschern der ETH Zürich entwickeltes Messgerät soll nun die Palpation ergänzen. Es erlaubt den Ärzten, die Konsistenz von Geweben und Organen im Körper zu messen. Das Hightech-Gerät hat ein denkbar einfaches Funktionsprinzip: Man stelle sich vor, einen Strohhalm in den Mund zu nehmen und mit dessen unterem Ende eine Hand oder einen Arm zu berühren. Saugt man am Strohhalm, werden die Haut und das darunterliegende Gewebe im Innern des Halms leicht angehoben. Um eine weiche Hautpartie zu wölben, reicht schwaches Saugen. Um straffe Haut gleich weit in den Strohhalm zu ziehen, muss man etwas stärker saugen.
Schwangerschaftsverlauf verfolgen
Im Aspirationsgerät aus dem Team von Edoardo Mazza, Professor am Institut für mechanische Systeme, entspricht ein Metallröhrchen dem erwähnten Strohhalm. Über einen Schlauch ist es mit einer Pumpe verbunden, mit der ein messbarer Unterdruck erzeugt werden kann. Im Innern des Röhrchens ermitteln Sensoren die Gewebewölbung. Zusammen mit dem gemessenen Unterdruck können die Wissenschaftler so die Steifigkeit des Gewebes bestimmen. Eine in das Gerät integrierte Minikamera liefert dem Operateur ausserdem Bilder.
In Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Zürich haben die ETH-Wissenschaftler die Beschaffenheit des Gebärmutterhalses von nicht-schwangeren und schwangeren Frauen ermittelt. So konnten sie erstmals überhaupt mit einem biomechanischen Messverfahren nachweisen, wie sich der Gebärmutterhals im Verlauf der Schwangerschaft allmählich erweicht und sich kurz nach der Geburt des Kindes wieder verfestigt. Regelmässige Messungen erlaubten den Wissenschaftlern, diesen Prozess mit detaillierten Daten abzubilden.
Neue Diagnosemethode
Eine umfangreiche klinische Studie im Universitätsspital Zürich und weiteren Krankenhäusern in Europa steht nun kurz bevor. Die Wissenschaftler möchten damit Daten von mehreren Tausend schwangeren Frauen gewinnen. Diese Daten sollen kombiniert mit Informationen zum Schwangerschaftsverlauf helfen, eine Diagnostikmethode zur Früherkennung von Schwangerschaftskomplikationen entwickeln zu können.
Um die Untersuchungen bei schwangeren Frauen durchführen zu können, musste die Sicherheit des Messgeräts laut Mazza oberste Priorität haben. Das Gerät sei so konstruiert, dass das Gewebe nicht mehr als vier Millimeter gewölbt werden kann, erklärt der Ingenieurwissenschaftler. Dieser Sicherheitsmechanismus verhindert Gewebeschädigungen, selbst bei einer allfälligen Fehlmanipulation.
Grundlage für Computermodelle
Die Anwendung des Aspirationsgeräts beschränkt sich nicht auf die biomechanische Untersuchung des Gebärmutterhalses, vielmehr können damit eine ganze Reihe weiterer Organe untersucht werden. Eine Spezialversion des Gerätes kommt bei minimal-invasiven Untersuchungen und Operationen zum Einsatz. Das Gerät wird hierbei über einen kleinen Schnitt in der Bauchdecke in die Bauchhöhle geführt, damit die Beschaffenheit der inneren Organe wie der Leber oder des Magens gemessen werden kann. Bei minimal-invasiven Eingriffen kann der Arzt die Organe nicht mit den Fingern ertasten. «Unser Aspirationsgerät eröffnet erstmals die Möglichkeit, im lebenden Körper lokal biomechanische Eigenschaften von Gewebe zu erfassen», sagt Mazza.
Die Wissenschaftler haben mit der Methode bei
Kontrollpersonen umfassende Daten zu zahlreichen inneren Organen gewonnen.
«Solche Daten sind essenziell für die computerbasierte Medizin», erklärt Mazza.
In der computerbasierten Medizin versucht man unter anderem, Operationen zu
simulieren, beispielsweise für das Training von Ärzten oder für die konkrete
Planung eines komplexen chirurgischen Eingriffs. Die biomechanischen Daten aus
Mazzas Gruppe sind auch in Computermodelle von Organen geflossen, die im Rahmen
des Nationalen Forschungsschwerpunkts Co-Me (siehe Kasten) entwickelt worden
sind.
Nationaler Forschungsschwerpunkt Co-Me
Das Aspirationsgerät aus der Gruppe von ETH-Professor
Edoardo Mazza ist ein Teilprojekt des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) Co-Me. Die ETH Zürich war «Leading house» dieses Grossprojekts, an
dem in den vergangenen zwölf Jahren neun Schweizer Hochschulen und
Forschungsinstitutionen beteiligt waren. Ziel des NFS «Co-Me» war es,
Fortschritte in der computerunterstützten Medizin sowie der Anwendung von
Robotik und bildgebenden Verfahren in der Chirurgie zu erzielen. Dieses Jahr endet
der NFS. Am Mittwoch, 17. April 2013, findet an der ETH Zürich die
Abschlusskonferenz statt.
Gábor Székely, Professor am Institut für Bildbearbeitung der
ETH Zürich und Direktor des NFS Co-Me, zieht ein ausgesprochen positives
Fazit. «Dank des NFS Co-Me war es möglich, die computerunterstützte Medizin in
der Schweiz als starke Forschungsrichtung zu etablieren», sagt er. Er sei stolz
darauf, dass es im Rahmen des Projekts gelungen sei, hochkarätige Forschung auf
der ganzen wissenschaftlichen Bandbreite zu betreiben, von der
Grundlagenforschung bis zur Entwicklung marktfähiger Anwendungen und Produkte.
Aus dem NFS Co-Me sind elf Spin-off-Firmen hervorgegangen.
Ausserdem seien dank des Forschungsschwerpunkts
in Zürich, Basel und Bern starke Zentren für computergestützte Medizin
entstanden, die Bestand haben würden, sagt Székely. Auf dem Platz Zürich arbeiten
Ingenieure, Wissenschaftler und Mediziner fortan unter dem Dach des Verbunds
Hochschulmedizin Zürich eng zusammen. Und
auf nationaler Ebene ist mit dem Swiss Institute for Computer Assisted Surgery (Sicas) ein neues Institut entstanden, das auf diesem Gebiet die Koordination
der verschiedenen Forschungsinstitutionen übernehmen kann.
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