«Wir wollen Persönlichkeiten ausbilden»
Die ETH bietet eine ausgezeichnete Ausbildung. Jetzt hat der Rektor die «Qualitätskriterien für die Lehre» definiert. Im Gespräch erklären ETH-Rektor Lino Guzzella und Prorektor Andreas Vaterlaus, warum die Lehre an der ETH nicht nur für Einsteins gedacht ist und weshalb die naturwissenschaftlichen Grundlagen so wichtig sind.
Sie
haben «Qualitätskriterien für die Lehre» verfasst. Warum?
Lino Guzzella: Die ETH Zürich besitzt bereits Regularien zur Lehre, aber ein ETH-übergreifendes Dokument mit
Basiselementen, wenn Sie so wollen eine «Verfassung» unserer Lehre, gab es
bisher nicht. Sie ist mir ein grosses Anliegen, und ich freue mich, diese Lücke
nach intensivem Austausch mit der Lehrkommission, der Studienkonferenz und der
Prorektorenrunde nun schliessen zu können. Die Ausbildung an der ETH ist sehr gut
aufgestellt, aber sie hat immer noch Potenzial für Verbesserungen.
Andreas Vaterlaus: Wer immer im Bereich des Rektors oder in einem Departement an der Entwicklung eines Studiengangs arbeitet, hat mit diesem Papier künftig eine wichtige Orientierungshilfe zur Hand. Anhand der Qualitätskriterien lässt sich überprüfen, ob ein Curriculum den ETH-Anforderungen genügt.
Was
wird mit diesen Richtlinien festgelegt?
A. Vaterlaus: Es definiert, was ganze Studiengänge, aber auch
einzelne Lehrveranstaltungen leisten müssen. Dies reicht von der Struktur eines
Studiengangs über Leistungskontrollen und die Evaluation bis hin zur
Arbeitsbelastung und zum Arbeitsaufwand, der von Studierenden sinnvollerweise
verlangt wird. Allerdings haben wir detaillierte quantitative Angaben vermieden
– das wäre zu einengend, und bei unserem enorm breiten Ausbildungsangebot auch
kaum möglich.
Sie haben es angedeutet: Die Formulierungen sind recht allgemein.
Ist das nicht ein Nachteil für die Umsetzung?
L. Guzzella: Nein, denn wir legen an der ETH grössten
Wert auf die Freiheit von Lehre und Forschung. Wie also ein Studiengang konkret
aussehen soll, legt nicht der Rektor fest, sondern die Fachleute in den Departementen.
Meine Aufgabe ist es, diese mit guten Leitlinien zu unterstützen. Wir definieren
zum Beispiel, dass die Studienpläne nicht überladen sein sollen. Studierende
sollen ihr Studium bewältigen können – wir fokussieren dabei nicht
nur auf Einsteins, sondern auf talentierte und intellektuell begabte junge
Menschen.
A.Vaterlaus: Die Kriterien können die Departemente auch bei Evaluationen unterstützen. Auf deren Basis können externe Peers gezielt auf die Lehre eingehen.
Das heisst, bei Evaluationen wird der Blick verstärkt auf die
Lehre fallen?
L.Guzzella: Richtig. Und ich werde die Ergebnisse sowie
allfällige Massnahmen mit den Departementen diskutieren. Daher sind diese Qualitätskriterien
auch ein Katalysator, um solche Gespräche systematischer zu führen.
Greifen wir exemplarisch ein Qualitätselement heraus: Damit ein
Studiengang aktuell bleibt, sollen «Trends berücksichtigt werden». Was ist
damit gemeint?
A.Vaterlaus: Die forschungsnahe Ausbildung ist
bekanntlich einer der Trümpfe der ETH. So können und sollen etwa Erkenntnisse zum
Quantencomputing in ausgewählte Mathematik- und Physik-Veranstaltungen
einfliessen – das ist ein hoher, aber wichtiger Anspruch. Der Entscheid wann
und wie etwas in das Curriculum aufgenommen wird, liegt aber beim Departement.
Immer wieder wird diskutiert, ob ein Studium für einen Beruf
oder für die Forschung qualifiziert. Welches Ziel verfolgt die ETH?
L.Guzzella: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Für
Mathematiker sieht das Studium anders aus als für Bauingenieure – und das ist gut
so. Allen Studierenden gemeinsam ist, dass sie hervorragende theoretisch-naturwissenschaftliche
und mathematische Grundlagen erhalten, und dass sie frühzeitig mit
herausfordernden Forschungsfragen konfrontiert werden. Aber wie praxisnah es
sein soll, kommt auf den Studiengang an. Zentral ist: Wir wollen weiterhin
Persönlichkeiten ausbilden, die für anspruchsvolle Funktionen auf dem Arbeitsmarkt
hoch willkommen sind. Die Erfahrung zeigt, dass uns das ausgezeichnet gelingt.
Bisher mussten Studierende vor einer Prüfung oft ein Testat
vorweisen. Probeweise verzichtet die ETH in den kommenden drei Jahren darauf.
Warum?
L.Guzzella: Ein Testat garantiert noch nicht, ob etwas
verstanden wurde. Ich möchte den Blick, der mir bei den Testaten etwas zu sehr
auf dem Formalen liegt, auf das Wesentliche lenken: auf die Lerninhalte. Studieren
ohne Testat erfordert mehr Selbstverantwortung bei den Studierenden und diese
möchte ich fördern. Veranstaltungen, um den Stoff zu vertiefen, gibt es
natürlich weiterhin. Wir wollen keine Punktesammler heranbilden, sondern hervorragend
ausgebildete, selbständige Persönlichkeiten.
Die Studierenden
monieren, dass Testate eine optimale Vorbereitung auf die Prüfung waren.
A.Vaterlaus: Das ist falsch. So mussten beispielsweise sieben
von zwölf Übungen bearbeitet werden, um ein Testat zu erhalten. Dies suggeriert,
dass diese sieben Übungen als Prüfungsvorbereitung ausreichen. Um sich aber ausreichend
auf die Prüfung vorzubereiten, müssen alle zwölf Übungen bearbeitet werden. Es
gibt auch ganze Studiengänge, die seit vielen Jahren keine Testate mehr haben und sehr gut funktionieren.
Kommt hinzu, dass die Dozierenden zur Überprüfung des Lernfortschritts während
des Semesters wie bisher notenrelevante «Zentrale Elemente» definieren können.
Damit müssen die Studierenden jetzt selbst entscheiden, wie sie
sich auf eine Prüfung vorbereiten?
L. Guzzella: Die ETH bildet Menschen aus, die fähig und
willens sind, Verantwortung zu übernehmen. Dies gelingt aber nur, wenn sie sich
zu einer kritisch denkenden Persönlichkeit entwickeln können. Wir wollen unsere
Studierenden nicht bis zum Master an der Hand führen, sondern auf ihre Rolle
als Verantwortungsträger in Gesellschaft und Wirtschaft vorbereiten. Dies ist
eines der ganz wichtigen Ziele dieser Hochschule.
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