Veröffentlicht: 24.07.13
Science

«Auch beim Gotthardtunnel gab es Erdbeben»

Neue Technologien sind immer risikobehaftet, sagt Domenico Giardini, Professor am Institut für Geophysik und Delegierter der ETH für Tiefengeothermie. Die Tiefengeothermie soll trotz des Erdbebens in St. Gallen weiter vorangetrieben werden um die Energiewende zu ermöglichen – jedoch mit Anlagen abseits von Städten.

Interview: Fabio Bergamin
«Geothermieprojekte zur Stromproduktion sollte man abseits von Städten verfolgen», sagt ETH-Professor Domenico Giardini, Delegierter der Schulleitung für Geothermie. (Foto: Angelika Jacobs / ETH Zürich)
«Geothermieprojekte zur Stromproduktion sollte man abseits von Städten verfolgen», sagt ETH-Professor Domenico Giardini, Delegierter der Schulleitung für Geothermie. (Foto: Angelika Jacobs / ETH Zürich) (Grossbild)

In St. Gallen kam es am Samstag zu einem spürbaren Erdbeben, das durch ein Geothermie-Projekt ausgelöst wurde. Was genau ist passiert?
Für die Details müssen wir die Untersuchung abwarten, die nun läuft. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass die Tiefenbohrung in St. Gallen bewusst im Bereich einer bekannten Störungszone, welche die Sedimentschichten senkrecht durchzieht, gemacht wurde. Dies hat damit zu tun, dass man im Untergrund möglichst viel heisses Wasser anzapfen möchte, und die Durchlässigkeit der warmwasserführenden Sedimentschichten in einer solchen Zone in der Regel grösser ist als anderswo. In St. Gallen bildete sich im Bohrloch Gas und erzeugte hohen Druck. Möglicherweise – das ist noch nicht sicher – entstand das Gas, weil im Bohrloch auch mit Säure gearbeitet wurde, um das Sedimentgestein aufzulösen. Damit dieses Gas keine Schäden verursachen konnte, mussten die Verantwortlichen jedenfalls von oben Wasser mit hohem Druck in den Untergrund pumpen. Man rechnete nicht damit, dass die Störungszone dabei so leicht aktiviert wird und es zu einem Erdbeben kommt.

Haben die Verantwortlichen das Erdbebenrisiko dieser Störungszone unterschätzt?
Das Erdbebenrisiko wurde im Vorfeld diskutiert, und die Projektverantwortlichen kamen zum Schluss, dass es an diesem Ort und mit der gewählten Bohrmethode klein ist. Dies unter anderem, weil die Störungszone schon sehr alt ist und als inaktiv eingeschätzt wurde. Zudem zeigt die Erfahrung von weltweit mehreren Zehntausend Bohrungen – auch solchen in der Nähe von Bruchzonen –, dass es nur selten zu Erdbeben kommt und bis jetzt nie zu grossen Erdbebenschäden, wenn Wasser mit hohem Druck in die Tiefe gepumpt wird.

Risikolos ist die gewählte Methode jedoch nicht, wie sich nun gezeigt hat.
Es ist wichtig zu verstehen, dass es immer mit einem Erdbebenrisiko verbunden ist, wenn man in den Untergrund bohrt. Das gilt für die Erdölindustrie, die Erdgasindustrie, den Tunnelbau und auch für die Geothermie. Auch beim Bau des Gotthardbasistunnels gab es kleine Erdbeben, die man an der Oberfläche spüren konnte. Zentral ist, das Erdbebenrisiko richtig einzuschätzen. Bei den derzeitigen Geothermie-Projekten in der Schweiz ist ein Teil des Risikos aber eine Konsequenz der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Inwiefern?
Die bisherigen Projekte hierzulande wurden alle von Stadtwerken oder kantonalen Energiegesellschaften vorangetrieben und dienten primär dazu, Fernwärme zu produzieren. Deshalb waren sie in der Nähe von Städten lokalisiert. Bei diesen Projekten war jeweils auch vorgesehen, eine kleine Mengen Strom zu produzieren. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass der Bund bei Anlagen zur Stromproduktion heute 50 Prozent, in Zukunft 60 Prozent des Verlustes trägt, wenn die Anlage nicht in Betrieb geht. Für die Nutzung von Fernwärme müsste man nicht vier oder fünf Kilometer tief bohren. Ein Grossteil von Paris wird mit Erdwärme geheizt – aus viel weniger tiefen Schichten. Für die Stromproduktion hingegen benötigt man heisseres Wasser, weshalb tiefer gebohrt werden muss. Wenn in der Nähe von Städten so tief gebohrt wird, ist das mit einem erhöhten Risiko verbunden.

Oft wird gesagt, Geothermie-Projekte seien nur wirtschaftlich, wenn damit sowohl Strom produziert werden kann, als auch die Wärme in ein Fernwärmenetz eingespiesen wird.
Das mag stimmen, wenn ein Projekt kurzfristig Gewinn abwerfen muss oder wenn wir von kleineren Projekten sprechen, wie sie die Stadtwerke verfolgen. Um die in der nationalen Energiestrategie 2050 vorgesehene Energiewende herbeizuführen, um also mittelfristig die Kernkraft zu ersetzen, brauchen wir grössere Kraftwerke, die primär der Stromproduktion dienen. Mit solchen lässt sich Strom viel konkurrenzfähiger produzieren. Die Energiestrategie sieht vor, mit Tiefengeothermie ein halbes Gigawatt Strom herzustellen. Dieses Ziel wird man nicht erreichen können mit Kraftwerken mit einer Leistung von wenigen Megawatt, wie es in St. Gallen geplant ist.

Wird das Ereignis in St. Gallen Konsequenzen für die Nutzung der Erdwärme in der Schweiz haben?
Unmittelbar nach einem Ereignis erwartet man immer grosse Konsequenzen. Ich hoffe jedoch, dass der Vorfall keine Konsequenzen für die Energiewende haben wird. Stellen Sie sich vor: Wir hätten den Gotthardbasistunnel niemals fertiggestellt, wenn wir den Bau bei den ersten Unfällen abgebrochen hätten. Man sollte zudem nicht vergessen, dass keine Technologie, und insbesondere keine Art der Stromproduktion völlig risikolos ist. Auch bei den grossen Staudämmen gibt es Risiken. Tiefengeothermie kommt weltweit zum Einsatz, und die Geologie in der Schweiz ist nicht so speziell, dass man sagen müsste, hier wäre die Technologie risikoreicher als anderswo. Wir müssen damit rechnen, dass es beim Bau von Geothermie-Kraftwerken zu kleineren Erdbeben kommen könnte, und wir sollten nicht aufgeben, wenn es soweit ist. Der Vorfall in St. Gallen zeigt: Wir brauchen mehr Verständnis.

Das heisst?
Um die Energiestrategie des Bundes umzusetzen, brauchen wir Erfahrung mit der Tiefengeothermie im eigenen Land. Wir brauchen Experten und gute Studierende. Und wir brauchen Pilotanlagen, mit denen die Forschung und die Industrie Erfahrung sammeln kann, und die nicht vom ersten Tag an Gewinn abwerfen müssen. Bis 2020 oder 2025 wollen wir soweit sein, dass die Industrie und die Behörden sagen können: Wir verstehen das System, wir werden es kommerziell entwickeln, um die Energieziele zu erreichen. Solange die Technologie so jung ist, sollten diese Anlagen aber nicht in die Nähe von Städten zu liegen kommen. Denn das Risiko besteht ja nicht per se darin, dass die Erde bebt. Vielmehr geht es darum, die möglichen Schäden eines allfälligen Bebens zu minimieren. Daher muss man solche Anlagen in schwach besiedelten Gebieten bauen.

Was sind die Konsequenzen des Erdbebens für die Forschung an der ETH?
Wir können allenfalls die positive Seite dieses Erdbebens sehen: Wir haben nun mehr Daten, und wir können damit besser verstehen, wie so etwas passieren konnte. Ansonsten sollte das Beben in St. Gallen keine Konsequenzen auf unsere Arbeit haben. Gemeinsam mit dem Bund und der Stromindustrie sind wir an der ETH dran, einen Masterplan für die Tiefengeothermie für die Stromherstellung zu entwickeln und umzusetzen. Das entsprechende Kompetenzzentrum werden wir an der ETH Zürich leiten.

 
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