«Auch beim Gotthardtunnel gab es Erdbeben»
Neue Technologien sind immer risikobehaftet, sagt Domenico Giardini, Professor am Institut für Geophysik und Delegierter der ETH für Tiefengeothermie. Die Tiefengeothermie soll trotz des Erdbebens in St. Gallen weiter vorangetrieben werden um die Energiewende zu ermöglichen – jedoch mit Anlagen abseits von Städten.
In St. Gallen kam es
am Samstag zu einem spürbaren Erdbeben, das durch ein Geothermie-Projekt
ausgelöst wurde. Was genau ist passiert?
Für die Details müssen wir die Untersuchung abwarten, die
nun läuft. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass die Tiefenbohrung in St.
Gallen bewusst im Bereich einer bekannten Störungszone, welche die
Sedimentschichten senkrecht durchzieht, gemacht wurde. Dies hat damit zu tun,
dass man im Untergrund möglichst viel heisses Wasser anzapfen möchte, und die
Durchlässigkeit der warmwasserführenden Sedimentschichten in einer solchen Zone
in der Regel grösser ist als anderswo. In St. Gallen bildete sich im Bohrloch
Gas und erzeugte hohen Druck. Möglicherweise – das ist noch nicht sicher – entstand
das Gas, weil im Bohrloch auch mit Säure gearbeitet wurde, um das
Sedimentgestein aufzulösen. Damit dieses Gas keine Schäden verursachen konnte,
mussten die Verantwortlichen jedenfalls von oben Wasser mit hohem Druck in den
Untergrund pumpen. Man rechnete nicht damit, dass die Störungszone dabei so
leicht aktiviert wird und es zu einem Erdbeben kommt.
Haben die
Verantwortlichen das Erdbebenrisiko dieser Störungszone unterschätzt?
Das Erdbebenrisiko wurde im Vorfeld diskutiert, und die
Projektverantwortlichen kamen zum Schluss, dass es an diesem Ort und mit der
gewählten Bohrmethode klein ist. Dies unter anderem, weil die Störungszone
schon sehr alt ist und als inaktiv eingeschätzt wurde. Zudem zeigt die
Erfahrung von weltweit mehreren Zehntausend Bohrungen – auch solchen in der
Nähe von Bruchzonen –, dass es nur selten zu Erdbeben kommt und bis jetzt nie zu grossen
Erdbebenschäden, wenn Wasser mit hohem Druck in die Tiefe gepumpt wird.
Risikolos ist die
gewählte Methode jedoch nicht, wie sich nun gezeigt hat.
Es ist wichtig zu verstehen, dass es immer mit einem
Erdbebenrisiko verbunden ist, wenn man in den Untergrund bohrt. Das gilt für
die Erdölindustrie, die Erdgasindustrie, den Tunnelbau und auch für die
Geothermie. Auch beim Bau des Gotthardbasistunnels gab es kleine Erdbeben, die man
an der Oberfläche spüren konnte. Zentral ist, das Erdbebenrisiko richtig
einzuschätzen. Bei den derzeitigen Geothermie-Projekten in der Schweiz ist ein
Teil des Risikos aber eine Konsequenz der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Inwiefern?
Die bisherigen Projekte hierzulande wurden alle von
Stadtwerken oder kantonalen Energiegesellschaften vorangetrieben und dienten
primär dazu, Fernwärme zu produzieren. Deshalb waren sie in der Nähe von
Städten lokalisiert. Bei diesen Projekten war jeweils auch vorgesehen, eine
kleine Mengen Strom zu produzieren. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass der
Bund bei Anlagen zur Stromproduktion heute 50 Prozent, in Zukunft 60 Prozent
des Verlustes trägt, wenn die Anlage nicht in Betrieb geht. Für die Nutzung von
Fernwärme müsste man nicht vier oder fünf Kilometer tief bohren. Ein Grossteil
von Paris wird mit Erdwärme geheizt – aus viel weniger tiefen Schichten. Für
die Stromproduktion hingegen benötigt man heisseres Wasser, weshalb tiefer
gebohrt werden muss. Wenn in der Nähe von Städten so tief gebohrt wird, ist das
mit einem erhöhten Risiko verbunden.
Oft wird gesagt,
Geothermie-Projekte seien nur wirtschaftlich, wenn damit sowohl Strom
produziert werden kann, als auch die Wärme in ein Fernwärmenetz eingespiesen
wird.
Das mag stimmen, wenn ein Projekt kurzfristig Gewinn
abwerfen muss oder wenn wir von kleineren Projekten sprechen, wie sie die
Stadtwerke verfolgen. Um die in der nationalen Energiestrategie 2050
vorgesehene Energiewende herbeizuführen, um also mittelfristig die Kernkraft zu
ersetzen, brauchen wir grössere Kraftwerke, die primär der Stromproduktion
dienen. Mit solchen lässt sich Strom viel konkurrenzfähiger produzieren. Die Energiestrategie sieht vor, mit Tiefengeothermie ein halbes Gigawatt Strom herzustellen. Dieses Ziel wird man nicht erreichen können mit Kraftwerken mit einer Leistung von wenigen Megawatt, wie es
in St. Gallen geplant ist.
Wird das Ereignis in
St. Gallen Konsequenzen für die Nutzung der Erdwärme in der Schweiz haben?
Unmittelbar nach einem Ereignis erwartet man immer grosse
Konsequenzen. Ich hoffe jedoch, dass der Vorfall keine Konsequenzen für die
Energiewende haben wird. Stellen Sie sich vor: Wir hätten den
Gotthardbasistunnel niemals fertiggestellt, wenn wir den Bau bei den ersten
Unfällen abgebrochen hätten. Man sollte zudem nicht vergessen, dass keine
Technologie, und insbesondere keine Art der Stromproduktion völlig risikolos
ist. Auch bei den grossen Staudämmen gibt es Risiken. Tiefengeothermie kommt
weltweit zum Einsatz, und die Geologie in der Schweiz ist nicht so speziell,
dass man sagen müsste, hier wäre die Technologie risikoreicher als anderswo.
Wir müssen damit rechnen, dass es beim Bau von Geothermie-Kraftwerken zu
kleineren Erdbeben kommen könnte, und wir sollten nicht aufgeben, wenn es
soweit ist. Der Vorfall in St. Gallen zeigt: Wir brauchen mehr Verständnis.
Das heisst?
Um die Energiestrategie des Bundes umzusetzen, brauchen wir
Erfahrung mit der Tiefengeothermie im eigenen Land. Wir brauchen Experten und
gute Studierende. Und wir brauchen Pilotanlagen, mit denen die Forschung und
die Industrie Erfahrung sammeln kann, und die nicht vom ersten Tag an Gewinn
abwerfen müssen. Bis 2020 oder 2025 wollen wir soweit sein, dass die Industrie und
die Behörden sagen können: Wir verstehen das System, wir werden es kommerziell
entwickeln, um die Energieziele zu erreichen. Solange die Technologie so jung
ist, sollten diese Anlagen aber nicht in die Nähe von Städten zu liegen kommen.
Denn das Risiko besteht ja nicht per se darin, dass die Erde bebt. Vielmehr
geht es darum, die möglichen Schäden eines allfälligen Bebens zu minimieren. Daher
muss man solche Anlagen in schwach besiedelten Gebieten bauen.
Was sind die
Konsequenzen des Erdbebens für die Forschung an der ETH?
Wir können allenfalls die positive Seite dieses Erdbebens
sehen: Wir haben nun mehr Daten, und wir können damit besser verstehen, wie so
etwas passieren konnte. Ansonsten sollte das Beben in St. Gallen keine
Konsequenzen auf unsere Arbeit haben. Gemeinsam mit dem Bund und der
Stromindustrie sind wir an der ETH dran, einen Masterplan für die Tiefengeothermie für die Stromherstellung zu entwickeln und umzusetzen. Das
entsprechende Kompetenzzentrum werden wir an der ETH Zürich leiten.
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