Mit dem Genprofil zum Arzt
Die Medizin der Zukunft ist die «Personalisierte Medizin», die abgestimmt ist auf die individuelle genetische Ausstattung, sagt Ernst Hafen, Professor für Molekulare Systembiologie an der ETH Zürich, im Interview. Ein Symposium im Technopark lanciert die öffentliche Diskussion.
Ernst Hafen hält ein grossformatiges Buch mit hunderten von Seiten, legt es vor sich auf den Tisch und schlägt es auf. Die Doppelseite wirkt grau. Von blossem Auge ist kaum zu erkennen, dass die graue Fläche aus winzigen Buchstaben besteht. Erst mit der Lupe sind diese zu erkennen: G, C, A, T – die Abkürzungen für die vier Bausteine der Erbsubstanz. Dieses Buch enthält die Sequenz des menschlichen X-Chromosoms, die bekannten Gene sind fett hervorgehoben. 154 Millionen Buchstaben sind so festgehalten, rund 250'000 auf einer Seite. Das X-Chromosom ist eines von 46 Chromosomen, deren Sequenz zusammen sechs Milliarden Buchstaben enthält. Diese Genomsequenz ist die Grundlage für ein neues Konzept, die so genannte «personalisierte Medizin». In wenigen Jahren wird es möglich sein, dass Millionen von Menschen über ihre eigene Genomsequenz verfügen werden. Diese Sequenzen können in anonymisierter Form der Forschung zur Verfügung gestellt werden und werden eine wichtige Grundlage für Diagnose und Therapie spielen.
Forscherinnen und Forscher widmen dem Thema in dieser Woche zwei hochkarätige Veranstaltungen. Im Technopark kommen morgen Dienstag führende Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter zusammen, ab Mittwoch wird im Rahmen der Academia Engelberg an drei Tagen die personalisierte Medizin interdisziplinär betrachtet.
Ernst Hafen, um von
der personalisierten Medizin profitieren zu können, müsste jeder Mensch sein
Genom sequenzieren lassen. Ist das realistisch?
In zwei bis drei Jahren werden wir für höchstens 200 Franken alle
sechs Milliarden Buchstaben Ihres oder meines gesamten Genoms bestimmen können.
Was wir bereits jetzt wissen, ist, dass sich Ihre und meine Sequenzen nur
gerade in einem von 1000 Buchstaben unterscheiden. Diese kleinen Unterschiede
erklären im Wesentlichen den Unterschied zwischen uns beiden: Grösse, Aussehen und
so weiter. Daran erkennt man die Herausforderung, erklären zu können, wie
diese Unterschiede wesentlich zur
Anfälligkeit auf Krankheiten beitragen.
Diese Unterschiede
betreffen aber nicht nur die Gene, sondern auch die nicht kodierenden
Abschnitte zwischen einzelnen Genen, die teilweise viel grösser sind.
Die meisten Unterschiede bestehen in DNS-Abschnitten
zwischen einzelnen Genen. Viele davon haben gar keinen Effekt. Einige
beeinflussen aber möglicherweise, wann und wo ein Gen angeschaltet wird. Sie
und ich haben die gleichen Gene. Aber der Zeitpunkt, ab wann und wie stark diese
Gene angeschaltet werden, macht zu einem wesentlichen Teil den Unterschied zwischen
uns aus. Deshalb brauchen wir Methoden, um die Genaktivität quantitativ messen
zu können, nicht nur qualitativ. Aus diesen genotypischen Unterschieden möchten
wir die phänotypischen erklären können. In den meisten Fällen ist das enorm
schwierig, weil Krankheiten ja nicht nur auf Veranlagung beruhen, sondern auch
auf Umwelteinflüssen, wie zum Beispiel Ernährung. Ausserdem ist in der grossen
Mehrheit der Fälle nicht nur ein Gen für eine Krankheit verantwortlich, sondern
mehrere im Zusammenspiel.
Wäre es dann nicht
besser, die Genprodukte, also Proteine, zu bestimmen anstatt der
Buchstabenfolge des Genoms?
Wir bewegen uns zwischen zwei Extremen. Einerseits haben wir
den genetischen Bauplan, den Genotyp, andererseits den Phänotyp, also die
Ausprägung, den gesunden oder kranken Menschen.
Letztlich müssen wir schauen, wie aus dem Genotyp der Phänotyp wird. Dazwischen
gibt es unzählige Zwischenschritte, die auch von Umweltfaktoren beeinflusst
werden. Je mehr Informationen wir zwischen A und B haben, desto besser
verstehen wir, wie es vom Bauplan, der Genomsequenz,
zum Resultat, dem Phänotyp, einer Krankheit, kommt. Das ist im Prinzip eines
der Ziele der personalisierten Medizin. Dazu
kommt die Familiengeschichte, die ebenfalls genetisch bedingt ist und bis heute als aufschlussreicher gilt als die reine DNS-Sequenz. Findet
man in einer Familie Anfälligkeit für Brustkrebs, dann weiss man heute, dass dies
auf bestimmte Genvarianten zurückzuführen ist.
Wenn solche Genvarianten
in einer Familie drin sind, müsste man für alle noch lebenden Familienmitglieder
die DNS sequenzieren. Ist das nicht immens teuer?
Damit sind wir beim technischen Fortschritt. Das erste
gesamte Genom eines Menschen zu sequenzieren, kostete vor zehn Jahren noch drei
Milliarden US-Dollar. In zwei Jahren wird es wohl weniger als 1000 Dollar
kosten, weil der technische Fortschritt so enorm ist. Darauf ist unsere
Gesellschaft jedoch nicht vorbereitet. Darauf zielt auch unsere Sensibilisierungskampagne
für personalisierte Genomik und genetische für Konsumenten geeignete genetische Tests. Die Kampagne haben wir beim Schweizerischen Nationalfonds zur Finanzierung
eingereicht und möchten damit die Diskussion über personalisierte Medizin
anstossen.
Was muss Ihrer
Ansicht nach dringend diskutiert werden?
Wenn Sie Ihr Genom bestimmen lassen könnten, wüssten Sie
etwas über sich selber und Ihre Eltern, aber auch über Ihre Kinder, da sie die
Hälfte ihrer Gene von Ihnen haben, bzw. an die Kinder weitergeben haben. Will
man das wirklich? Soll man es den Kindern sagen, wenn man merkt, dass man
Träger einer genetisch festgelegten Krankheit ist? Für die Forschung sind diese
Zusammenhänge natürlich sehr wichtig.
Aber was mache ich
persönlich, wenn ich nun aufgrund der Genomanalyse erkenne, dass ich für Krebs
oder Diabetes anfällig bin?
Sie können sich frühzeitig damit befassen, was Sie tun
können, um das Auftreten der Krankheiten zu verhindern. Zum Beispiel über
Ernährung und Sport. Sie sind sich dessen bewusst und passen ihren Lebensstil
entsprechend an. Dazu ein Beispiel: Die Ehefrau des Google-Gründers Sergei Brin
hat eine Firma namens «23andme» gegründet. Diese Firma hat vor fünf Jahren
angefangen, Genomanalysen anzubieten. Brin machte den
Test und fand heraus, dass er von seiner Mutter, die selbst an Parkinson
erkrankt ist, die Genvariante geerbt hat, die sein eigenes Risiko an Parkinson
zu erkranken, stark erhöht. Er hat daraufhin seinen Lebensstil angepasst und
investiert vermehrt in Parkinsonforschung. Weil diese Forschung aber sehr
langsam vor sich geht, investiert er auch in Firmen wie «23andme». Denn die
gewonnene Genominformation von Millionen von Leuten kann so in anonymisierter Form
der Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Was macht die
Forschung mit solchen Daten?
Die Forschung hat die Möglichkeit, aus den Daten neue
Korrelationen zu finden, die bisher unbekannt waren. Bei Diabetes Typ 2 kennt
man vielleicht 10 Prozent der Gene, die etwas mit dem erblichen Faktoren zu tun
haben.
Was tun, wenn man die
Gene kennt, die für eine Krankheit relevant sind? Kann man Hemmstoffe
einsetzen, die die Aktivität dieser Gene beeinflussen?
Ja, das macht man bereits. Von Hautkrebs gibt es
verschiedene Arten. Morphologisch sind sie gleich, sie entstehen aber anders,
denn in Krebszellen entstehen viele neue Mutationen. Es gibt nun eine Klasse
von Hautkrebszellen, in denen ein bestimmtes Gen defekt ist. Wenn man nun um die entsprechende Mutation weiss und das Genom der
Krebszelle sequenzieren kann, dann kann man einen Hemmstoff gezielt bei den
Patienten einsetzen, die diesen Gendefekt haben. Bei anderen,
bei denen diese Mutation nicht vorhanden ist, nützt der Hemmstoff nichts.
Das ist eines der frühen Beispiele der Anwendungen für personalisierte Medizin.
Personalisierte Medizin
klingt, weil sie das Individuum in den Fokus setzt, aufwändig und teuer.
Mit personalisierter Medizin hat man bessere
Therapiemöglichkeiten, die dazu beitragen, bestehende Medikamente gezielter einzusetzen.
Wird zum Beispiel ein Medikament für die Behandlung der besagten Hautkrebsmutation
entwickelt, lohnt es sich nicht, dieses bei einem Patienten einzusetzen, der
diese Mutation nicht hat. So wird die Ausfallrate von Medikamenten verringert.
Das wird meiner Meinung nach zur Reduktion von Entwicklungskosten führen, weil
man Medikamente gezielter testen kann. Die Tatsache, dass man besser und
gezielter therapieren oder vorbeugen kann, so dass gewisse Krankheiten nicht
zum Tragen kommen, macht auch teure Behandlungen unnötig. Man muss daran
denken, dass Sie und ich uns nur in einem von 1000 Buchstaben unterscheiden. Es
ist also nicht so, dass jeder Mensch ein anderes Medikament braucht, er braucht
eine andere Kombination von Medikamenten. Anderseits ist eine berechtigte
Befürchtung von Skeptikern der personalisierten Genomanalysen - zu denen auch
viele Ärzte gehören -, dass Leute diese Daten nicht richtig interpretieren
können und das Gesundheitssystem mit der Forderung nach weiteren
Vorbeugeuntersuchung überschwemmen. Hier gibt es einen grossen Bedarf für
Dialog und Aufklärung. Etwas worauf unsere Sensibilisierungskampagne abzielt.
Was heisst das für
die Ärzte? Brauchen sie ein molekulargenetisches Labor?
Nein, aber ein Arzt muss verstehen, worum es geht. Viele Ärzte
wissen relativ wenig über Genetik und Genomanalysen. Das heisst, dass die
Ausbildung angepasst werden muss. Ein Arzt muss mit den Genomdaten umgehen
können. Ärzte werden mehr und mehr zu Gesundheitscoachs. Diese Diskussion
müssen wir genauso führen wir diejenige der Datensicherheit oder der
Individualisierung der Daten. Was passiert mit meinen Daten? Ist mir wohl dabei,
wenn eine Firma, in die Google investiert, meine Genomdaten hat? Für mich
persönlich ist das kein Problem. In USA wird aber heftig debattiert und ich denke
auch, dass in der Schweiz vielen Leuten nicht wohl ist, wenn ihre Genomdaten
von Firmen gespeichert werden.
Google steht als
Datenkrake eher in einem schiefen Licht.
Gerade deshalb hat die Schweiz jetzt die Chance, etwas Neues
aufzubauen, zum Beispiel eine Institution auf Non-Profit-Basis zu schaffen, die
mit den Top-Forschungseinrichtungen weltweit zusammenarbeitet. Aber das sind
Zukunftsvisionen. Die Diskussionen über personalisierte Medizin muss nun aber
zügig angestossen werden. «23andme» oder das Buch über das X-Chromosom deuten
an, wo wir in zwei Jahren stehen. Wir sollten jetzt darüber sprechen.
Was passiert, wenn meine Krankenversicherung erfährt, dass ich eine
Krankheit entwickeln werde, die sie viel kosten wird?
Dazu gibt es seit 2007 ein
Gesetz, das die Verwendung von genetischen Daten für die Grundversicherung und für
Arbeitgeber verbietet. Aber wenn ich eine Lebensversicherung über eine halbe
Million Franken abschliessen will, dann wird mich die Versicherung nach meinem genetischen
Profil fragen und dieses sehen wollen. Das halte ich jedoch für fair. Schon
jetzt wird mich ein Vertrauensarzt der Versicherung nach meiner
Familiengeschichte und meinem Lebensstil befragen – und dies ist heute immer
noch aussagekräftiger als meine Genomanalyse.
Personalisierte Medizin - Kongresse
Am kommenden Dienstag, 13.
September 2011, findet am Technopark ein eintägiges Symposium zum Thema
Personalisierte Medizin statt. An dieser Veranstaltung treten Fachleute aus
Wissenschaft und Wirtschaft auf. Eine Podiumsdiskussion, an der unter anderem
eine Vertreterin von «23andme» teilnehmen wird, schliesst die Veranstaltung ab.
Dem Thema ist auch die diesjährige Academia Engelberg gewidmet, die am
Mittwoch, 14. September 2011, beginnt. Dieser Anlass dauert drei Tage, an denen
ebenfalls führende Experten aus Wissenschaft, Gesundheitswesen, der
Privatwirtschaft, aus Ethik und Politik werden sich über die kontroversen
Folgen der aufkommenden Technologie austauschen.
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